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Spartakist Nummer 198 |
Mai 2013 |
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Frauen und Revolution
Massenproteste nach tödlicher Vergewaltigung
Indien: Klasse, Kaste und Frauenunterdrückung
Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!
Nachfolgend drucken wir die leicht redigierte Übersetzung aus Workers Vanguard Nr. 1017, 8. Februar, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S. ab.
Die abscheuliche Gruppenvergewaltigung und Verstümmelung einer 23-jährigen Physiotherapiestudentin in Delhi am 16. Dezember 2012, die wenig später ihren Verletzungen erlag, entfachte eine große, bedeutende Protestwelle gegen die Unterdrückung von Frauen in Indien. In vielen Großstädten wie Kolkata (Kalkutta), Mumbai, Bangalore, Panayi und anderen Orten kam es zu Demonstrationen. Es ist bemerkenswert, dass es auch in Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka zu Demonstrationen kam, wo die Frauen es mit ähnlichen Verhältnissen wie in Indien zu tun haben.
Das Epizentrum der Proteste war Delhi, welches sich gerne rühmt Teil eines neuen Indiens zu sein. Neben Einkaufszentren und Nachtclubs existieren hier riesige Slums. Tatsache ist, dass die Hauptstadt die höchste dokumentierte Vergewaltigungsrate aller größeren Städte in Indien aufweist. Den Repressionsmaßnahmen der Polizei zum Trotz, die Wasserwerfer, Tränengas und Lathi (Bambusstöcke) einsetzte, hielten Demonstrationen von mutigen Studenten und anderen Jugendlichen mehrere Tage an.
Die Wut unter Frauen verstärkte sich noch zusätzlich, als es zu einem Ausbruch von abstoßendem frauenfeindlichen Chauvinismus kam, wonach das Opfer für das Verbrechen verantwortlich sei. M.L. Sharma, Anwalt von einem der fünf Angeklagten, erklärte, dass „anständige“ Frauen nicht vergewaltigt würden, und der Sohn des Präsidenten, Abhijit Mukherjee, bezeichnete die Demonstrantinnen geringschätzig als „angemalt“ und „ausgestopft“, mit anderen Worten „verwestlicht“ und für Studentinnen nicht altersgemäß. Ein Führer der faschistoiden Hindu-chauvinistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) erklärte, dass Sexualverbrechen „so gut wie nie in Bharat, dafür aber häufig in Indien geschehen“ (Wall Street Journal, 8. Januar). Die RSS hat Verbindungen zur Bharatiya Janata Party (BJP), die offen für das angeblich überlegene Hindutva („Hindutum“) eintritt. Dieser giftige Cocktail aus Nationalismus und religiösem Obskurantismus schürt brutale Pogrome, insbesondere gegen Muslime.
Der Ausdruck „Bharat“, das Hindi-Wort für Indien, hat seinen Ursprung in einer verklärten Vergangenheit eines idyllischen ländlichen Indiens – dem Gegenstück zum städtischen Indien, das angeblich durch den dekadenten westlichen Einfluss verdorben wurde, insbesondere auf Frauen. Die alltägliche Realität für die meisten Menschen in den indischen Dörfern ist eine Kombination aus extremer Armut und brutaler Kastenunterdrückung. Auf dem Land wird die Vergewaltigung von Dalit-Frauen (sogenannte „Unberührbare“) als Kasten-Privileg für Männer der „oberen“ Kasten angesehen, wo Vergewaltigung als Waffe benutzt wird, um die Frau und die Kaste, der sie angehört, zu erniedrigen und zu unterwerfen. Laut einer Studie vom März 2006 über die Gewalt gegen Dalit-Frauen, erhoben von der Nationalen Kampagne für die Menschenrechte der Dalit, sind 116 von 500 Frauen durch einzelne oder mehrere Männer gemeinsam vergewaltigt worden; unter den Tätern „entpuppten Gutsbesitzer der herrschenden Kaste sich als häufigste Gruppe“.
Die Polizei geht den Bürgerwehren, die Überfälle auf Dalit-Dörfer durchführen und dabei Häuser niederbrennen und die Frauen vergewaltigen, häufig zur Hand. Das Ausmaß dieser Gewalt zeigte sich in seiner ganzen Schärfe bei einem Vorfall in Tamil Nadu im November 2012, als 148 Dalit-Häuser von einem 2500 Mann starken Mob niedergebrannt wurden, weil eine Frau, die nicht den Dalit angehört, einen Dalit-Mann heimlich geheiratet hatte. Außerdem vergewaltigt und mordet die Polizei straffrei in Gebieten wie Chhattisgarh als Teil der Militäroffensive im östlichen Indien, die direkt gegen einen maoistischen Aufstand gerichtet ist, der sich auf die Adivasi (Stammesangehörige) stützt. Im besetzten Kaschmir setzt die indische Armee neben anderen Mitteln mörderischer Gewalt auch Vergewaltigung ein, um die muslimische Bevölkerung zu unterwerfen. Die Täter sind durch den Armed Forces Special Powers Act [Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte] von Strafverfolgung ausgenommen. Einheiten der indischen Armee verübten 1991 in Kunan Poshpora während einer einzigen Nacht eine Massenvergewaltigung an knapp 100 kaschmirischen Frauen im Alter von 13 bis 80 Jahren.
In vieler Hinsicht steht das Vergewaltigungsopfer in Delhi stellvertretend für eine Schicht junger städtischer Frauen, die durch Indiens jüngstes Wirtschaftwachstum Zugang zu höherer Bildung und Arbeit erlangt haben. Ihr Vater wanderte drei Jahrzehnte zuvor aus einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens, dem ländlichen Uttar Pradesh, nach Delhi aus. Seine Tochter schloss vor kurzem die Ausbildung zur Physiotherapeutin ab, arbeitete wie viele andere auch in einem Call-Center und bevorzugte westliche Kleidung. Obwohl ihre Familie einer bäuerlichen Kaste angehört, ging sie in der Nacht der Vergewaltigung mit einem Begleiter ins Kino, der einer Brahmanenkaste angehört, was einen Tabubruch darstellt.
Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen in indischen Städten ist Bestandteil einer reaktionären Gegenreaktion auf diese Schicht junger Frauen, die gewisse Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg haben und damit im Vergleich zu den verarmten Massen relativ privilegiert sind. Im „neuen“ Indien werden Frauen, die hohe Absätze und kurze Röcke tragen oder glauben, sie hätten das Recht, sich ihren Freund auszusuchen oder gar außerhalb ihrer Kaste zu heiraten, als Bedrohung der traditionellen Moral, der Institution der Familie sowie der herrschenden Hindureligion und des mit dem Landleben verwobenen Kastensystems wahrgenommen.
Die Frage der Frauenbefreiung ist in Indien und auf dem gesamten Subkontinent hochexplosiv. Der Kampf um die dringendsten Bedürfnisse der Frauen – Alphabetisierung, Ausbildung, Verhütungsmittel, die Beseitigung der Zwangsheirat und ein Ausweg aus bitterer Armut und grässlicher Kastenunterdrückung – bedeutet einen Kampf gegen die Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft. Während Indiens Wirtschaftswachstum einigen wenigen unerhörten Reichtum bescherte, stürzte es die breite Mehrheit der Bevölkerung in zusätzliche Armut. In den ländlichen Regionen werden Millionen von ihrem Boden vertrieben, so dass sie in den stetig wachsenden Slums der Großstädte in Elend und Schmutz dahinvegetieren. Diese gesellschaftlichen Bedingungen in Indien machen klar, dass für die Befreiung der Frau eine sozialistische Revolution notwendig ist.
Die Bullen: Todfeinde der Frauen
und aller Unterdrückten
Die Proteste gegen die Vergewaltigungen stellten einen Aufschrei der Empörung gegen die Behandlung von Frauen in Indien dar. Gleichzeitig haben viele der aufgestellten Forderungen einen reaktionären „Law-and-Order“-Tenor, der von der reformistischen Linken aufgegriffen wurde. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) – im Folgenden CPI (M) genannt –, die die Stärkung des kapitalistischen Staates, namentlich der Gerichte und der Polizei, fordert. Nachdem die CPI (M) groteskerweise ein Kondolenzschreiben für einen Bullen, der bei den brutalen Polizeieinsätzen gegen die Proteste in Delhi umkam, verschickte (mittlerweile von ihrer Seite www.cpim.org entfernt), drängte sie in einer Stellungnahme vom 4. Januar das von der Regierung einberufene Verma-Komitee dazu, für Vergewaltigung „strikte lebenslange Haft bis zum Tod“ einzuführen und „viel mehr weibliches Polizeipersonal“ zu rekrutieren.
Dass eine Partei, die jahrzehntelang den kapitalistischen Staat in Westbengalen verwaltete, eine Seite mit den Bullen bezieht, dürfte niemanden überraschen. Im Jahr 2006 führte die CPI-(M)-geführte Regierung im Auftrag von Tata Motors, einem der größten kapitalistischen Konglomerate Indiens, eine Kampagne blutiger Repression gegen arme Bauern aus Singur und Nandigram durch (siehe „The Political Bankruptcy of Indian Stalinism“, Workers Vanguard Nr. 993, 6. Januar 2012).
Wir sind gegen jede Form der Aufrüstung der Repressionskräfte des kapitalistischen Staates, welche nun unter dem Vorwand der Verteidigung von Frauen eingeführt werden könnten. Denn eines ist sicher, bürgerliche Maßnahmen, wie die strafrechtliche Verurteilung von Vergewaltigung zu erleichtern, würden hauptsächlich dazu benutzt werden, Dalits, Moslems und allgemein die Armen zu verfolgen, die oft für Vergewaltigungen und andere Verbrechen bestraft werden, die von Angehörigen der herrschenden Kasten und den Bullen begangen werden.
Die Perspektive, die von Feministen und der reformistischen Linken verkauft wird, besteht darin, dass der kapitalistische Staat für den Schutz von Frauen sorgt. Dies drückt sich unausweichlich in Forderungen nach mehr oder besser ausgebildeten Bullen auf den Straßen aus. Die pseudo-trotzkistische New Wave Group aus Pune (die mit der morenistischen International Workers League verbunden ist) gab am 19. Januar eine Stellungnahme heraus, in der sie vorschlug, „den Anteil an Frauen in der Polizei zu erhöhen“ (www.litci.org). Einen ähnlichen Tonfall schlägt die mit dem ehemaligen Vereinigten Sekretariat verbundene Radical Socialist Group an, die „umfassende Geschlechts- und Sexualitäts-Sensibilisierungskurse für Polizei und Justiz“ (www.radicalsocialist.in, 20. Januar) fordert. Illusionen, dass die Polizei Frauen vor Vergewaltigung schützt, sind insbesondere in Indien haarsträubend und können sogar tödlich sein: Von Bullen vergewaltigt zu werden ist für Frauen genauso wahrscheinlich wie eine Vergewaltigung durch jeden anderen. Polizeireviere sind notorisch gefährlich für Frauen, die dort alleine hingehen.
Liberale Hirngespinste, durch das Vertrauen auf den Staat und seine Gesetze einen graduellen Übergang hin zur Gleichberechtigung der Frau zu erlangen, werden durch die Explosivität jedes Versuchs, gegen die Frauenunterdrückung in Indien zu kämpfen, Lügen gestraft. Tatsächlich ist die Gleichberechtigung der Frau bereits in der indischen Verfassung verewigt, was immer das auch bringen mag. Die brennenden Probleme, mit denen sich Frauen konfrontiert sehen, werfen Fragen auf, die nur durch die proletarische Revolution beantwortet werden können.
Die Alphabetisierungsrate unter indischen Frauen liegt bei schockierenden 48 Prozent (im Vergleich zu 73 Prozent bei den Männern). Laut einer UNICEF-Studie sind 90 Prozent der Ehen arrangiert (quer durch alle größeren Religionen und Kasten). Die Scheidungsrate liegt bei 1,1 Prozent, im Vergleich mit fast 50 Prozent in den USA. Besonders schwer lastet die weit verbreitete und uralte Praxis der Mitgift auf den Frauen. Die Familie der Braut ist gezwungen, einen bestimmen Betrag von Geld, Gütern oder Eigentum zur Ehe beizusteuern. Das Mitgiftsystem führt dazu, dass Mädchen als finanzielle Belastung der Familie betrachtet werden. Dies führt zu selektiven Abtreibungen (für diejenigen, die sich sowohl einen Schwangerschaftstest als auch eine Abtreibung leisten können). Da den meisten Frauen der Zugang zu Abtreibungsmöglichkeiten versperrt ist, ist das Töten weiblicher Säuglinge weit verbreitet. „Mitgiftsmorde“ – sprich, die Ermordung der Frau durch ihren Ehemann oder ihre Schwiegermutter – sind auf dem Vormarsch. Die offizielle Zahl für Mitgiftsmorde im Jahr 2008 lag bei 8172, aber laut der Internationalen Gemeinschaft gegen Mitgift und Brautverbrennung könnte die tatsächliche Ziffer um ein Dreifaches höher liegen. Dabei wurde die Praxis der Mitgift schon im Jahre 1961 gesetzlich verboten – soviel zu der liberalen Auffassung, dass Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen durch die Gesetzgebung beendet werden könnten.
Besonders massiv zugenommen haben in ganz Südasien auch „Ehren“morde: der Mord durch eigene Verwandte an Frauen, die die Beschränkungen des akzeptierten Sexualverhaltens sprengen, vor allem wenn sie sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe oder kastenübergreifende Liebschaften haben. In einigen Fällen sind Vergewaltigungsopfer ermordet worden. In Indien werden Vergewaltigungsopfer oft zur Ehe mit dem Täter gezwungen, um die „Ehre“ zu bewahren. Gebräuchlich unter Hindus, aber genauso auch unter Moslems und Sikhs, sind Ehrenmorde die brutalste Form der Herrschaftsausübung der Familie über das Sexualleben der Frau.
Diese Vorstellung von Ehre wurzelt in der Annahme, dass Frauen nichts weiter als das Hab und Gut ihrer Väter und Ehemänner sind und man sich ihrer ganz nach Belieben entledigen kann. Wie Friedrich Engels in seinem klassischen Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) klarmachte: „Um die Treue der Frau, also die Vaterschaft der Kinder, sicherzustellen, wird die Frau der Gewalt des Mannes unbedingt überliefert: Wenn er sie tötet, so übt er nur sein Recht aus.“ Die Familie ist die Hauptsäule der Frauenunterdrückung und stellt neben der Religion eine wichtige Stütze der kapitalistischen Ordnung dar.
Die Emanzipation der Frauen, die bei der Befreiung aller Unterdrückten Indiens und des gesamten Subkontinents eine strategisch wichtige Rolle spielt, kann nur durch das Programm der permanenten Revolution realisiert werden. Die Arbeiterklasse muss an der Spitze der Bauernschaft und der unterdrückten Massen die politische Macht durch eine sozialistische Revolution erobern, die Gesellschaft auf der Grundlage kollektivierten Eigentums neu organisieren und die Revolution schließlich international ausweiten, besonders auf die imperialistischen Zentren. Das historische Vorbild hierfür ist die große Oktoberrevolution 1917 in Russland, die von der bolschewistischen Partei von W. I. Lenin und Leo Trotzki angeführt wurde. Der Kampf für Frauenbefreiung ist für diese Perspektive von zentraler Bedeutung.
Imperialistische Unterjochung,
Patriarchat und Kaste
Indien verfügt über ein ansehnliches Proletariat in Autofabriken, Bergwerken, der Stahlindustrie, Eisenbahn, Textilindustrie und dem Maschinenbau. Die imperialistischen Mächte und die ihnen verpflichteten indischen Kapitalisten sind sich der potenziellen Macht der Arbeiterklasse absolut bewusst. Im letzten Jahr führten Arbeiter bei Maruti Suzuki, Indiens größtem Automobilhersteller, eine Serie von erbitterten Streiks in Gurgaon in der Nähe von Delhi durch, gegen die mit massiver staatlicher Repression vorgegangen wurde.
Es ist die Arbeitskraft des Proletariats, die das Vermögen hervorbringt, an dem sich die herrschende Klasse Indiens und die internationalen Banken bereichern. Die jetzige Führung der Arbeiterklasse lähmt diese potenzielle Macht. Zusätzlich zu der Spaltung nach ethnischer Herkunft, Religion und Kastenzugehörigkeit ist die Arbeiterklasse in verschiedenen konkurrierenden Gewerkschaften, die mit verschiedenen politischen Parteien verbunden sind, zersplittert. Es ist dringend notwendig, eine revolutionäre marxistische Führung zu schmieden, die für die Einheit und Unabhängigkeit der Arbeiterklasse kämpft. Das klassenbewusste Proletariat muss den Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen aufgreifen und sich an die Spitze aller Unterdrückten stellen. Es muss die bäuerlichen Massen für sich gewinnen, indem es für eine Agrarrevolution eintritt, die zum Sturz der Kapitalisten und Gutsbesitzer führt.
Indien ist ein klassisches Beispiel „kombinierter und ungleichmäßiger Entwicklung“. Nach mehr als 60 Jahren Unabhängigkeit und trotz seines Wirtschafts„wunders“ bleibt es überwiegend ländlich geprägt – bei einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen leben erstaunlicherweise 72 Prozent in den Dörfern, wo erbärmliche Verhältnisse herrschen. Kastenunterdrückung wird durch das Panchayat-System erzwungen, in dem Dorfräte alle Aspekte des sozialen Miteinanders bestimmen. Diese Dorfräte haben die Autorität, alles zu sanktionieren, von kastenübergreifenden Ehen bis hin zu Verstößen gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen. Frauenbefreiung und die Zerschlagung des Kastensystems sind unzertrennbar miteinander verbunden.
Die Fortdauer ländlicher Rückständigkeit ist das Erbe der britischen Kolonialherrschaft, die das Land ausbeutete, zergliederte und seine Entwicklung behinderte. Indiens Übergang von einer vorkapitalistischen Gesellschaft führte deshalb nicht zur Auflösung der patriarchalischen und Kastenbeziehungen, weil die koloniale Herrschaft diese bewahrte, manipulierte und verstärkte. Die britische Ostindische Kompanie eroberte indisches Territorium, indem sie den Zwist lokaler Fürsten ausnutzte und die Gegensätze zwischen den verschiedenen Ethnien, Religionen, Stämmen und Kasten vertiefte. Die kolonialen Plünderungen bereicherten die herrschende Klasse Britanniens und führten zum Zusammenbruch ganzer Bereiche der indischen Wirtschaft, einschließlich seiner bewässerten Landwirtschaft. Die Bauernschaft wurde von Steuern erdrückt, die sie sowohl dem Gutsbesitzer als auch dem Kolonialstaat zu entrichten hatten. Überall auf dem Land bedienten sich die Gutsbesitzer und ihre Mittelsmänner grausamer Erpressung und Gewalt, um die Steuern der Armen einzutreiben.
Als die Eroberung Indiens abgeschlossen war, bauten die britischen Machthaber eine einheimische Armee auf, die sie fast ausschließlich aus den höheren Kasten rekrutierten. Diese Situation dauerte bis 1857 an, als es zum Sepoy-Aufstand kam, der, wie Marx bemerkte, den ersten indischen Unabhängigkeitskrieg auslöste. Daraufhin wurde die Zusammensetzung der Armee verändert. Aber das Prinzip teile und herrsche war nach wie vor die Richtschnur, die von Marx zur Zeit der Rebellion so beschrieben wurde: „Das römische divide et impera war die Grundregel, mit der Großbritannien es ungefähr hundertundfünfzig Jahre lang zuwege brachte, die Macht über sein indisches Reich aufrechtzuerhalten.“
Seit der Unabhängigkeit im Jahre 1947 ist das kapitalistische Indien vom imperialistischen Finanzkapital abhängig gewesen und wird es auch bleiben, ungeachtet der Mythen über seine Entwicklung hin zur Supermacht. Unterdessen haben die einheimischen kapitalistischen Herrscher das Kastensystem benutzt, um die Hindudominanz beizubehalten. Seit den Tagen von Mohandas („Mahatma“) Gandhi und Jawaharlal Nehru, jener Periode, die für heutige bürgerliche Liberale die goldene Gelegenheit war, „säkulare Demokratie“ einzuführen, hat die Kongresspartei im Dienste des Hinduchauvinismus die Aufspaltung in Kasten und kommunalistische Streitigkeiten manipuliert. Der Kongress repräsentierte die Interessen der städtischen Händler, der Fachleute und vor allem der wohlhabenden Bauern. Der indische Nationalismus, für den die Kongresspartei eintritt, hatte immer eine starke Note von Hindu- und hindi-sprachigem Chauvinismus.
Gandhi, ein Idol der Liberalen, watete tief im Sumpf von Kastenvorurteilen und frauenfeindlicher Bigotterie. Im Kontext des entsetzlichen Blutvergießens, das mit der Teilung Indiens einherging, riet Gandhi jungen Frauen, ihre Zunge abzubeißen und den Atem anzuhalten bis zum Tod, wenn sie vergewaltigt werden. In unserem Artikel „Stalinist Alliance with Churchill Betrayed Indian Revolution“ (Workers Vanguard Nr. 970, 3. Dezember 2010) erklärten wir: „Gandhis Job war es, möglichst viel aus den Briten herauszuholen, im gemeinsamen Interesse, den Kapitalismus zu retten und dabei die stetig zunehmenden und nun auch zusehends militanter werdenden Kämpfe der Arbeiter und Bauern im Zaum zu halten. Der Textilmagnat Ambalal Sarabhai brachte es auf den Punkt, als er sagte, dass Gandhi ,die beste Garantie gegen den Kommunismus war, die Indien je hatte‘.“
Weil man befürchtete, dass die „Unberührbaren“ sich mit den Moslems zusammenschließen und als parlamentarisches Gegengewicht wirken könnten, nahm die Kongresspartei den Dalit-Führer B. R. Ambedkar in ihre Reihen auf, damit dieser die Ausarbeitung der Verfassung leitete, welche dann „Unberührbarkeit“ verbot, das Kastensystem allerdings nicht antastete. Sitze im Parlament wurden für „Unberührbare“ und „Stammesangehörige“ (heute: Dalits und Adivasis) reserviert. Später wurde eine geringfügige Reform durchgesetzt, die einen gewissen Prozentsatz von Stellen im öffentlichen Dienst für Dalits und Angehörige der niederen Kasten freihielt. Als Ambedkar anfing, seine Beteiligung an der Ausarbeitung der indischen Verfassung zu bereuen, fasste er das unabhängige Indien folgendermaßen zusammen: „Dieselbe alte Tyrannei, dieselbe alte Unterdrückung, dieselbe alte Diskriminierung, die vorher existierte, besteht auch jetzt, vielleicht sogar auf eine schlimmere Weise.“
Im Jahre 1984 entzündete der widerliche Hindu-Chauvinismus, mit dem der Kongress hausieren ging, heftige Pogrome gegen Sikhs. Er machte außerdem den Weg frei für die BJP, die im Windschatten mörderischer antimuslimischer Pogrome, die in der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya 1992 gipfelten, die Regierungsmacht erhielt. Die hindu-chauvinistischen Ausschreitungen in Ayodhya waren zum Teil durch Vorschläge der Mandal-Kommission der Regierung ausgelöst worden, Jobs für bestimmte untere Kasten zu reservieren.
Entgegen liberaler Illusionen stand eine „demokratische“ säkulare Gesellschaft im unabhängigen Indien unter kapitalistischer Herrschaft niemals auf der historischen Tagesordnung. Einzig eine proletarische sozialistische Revolution – die sich über das restliche Südasien erstreckt und sich auch auf die imperialistischen Zentren ausdehnt – kann die enorme Aufgabe der Beseitigung des allgemeinen Mangels bewältigen. Das allein kann die materielle Basis für die Beseitigung der Frauen- und Kastenunterdrückung schaffen und für die Befreiung der verarmten Massen. Eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte wird Millionen von Frauen und Männern aus ländlicher Rückständigkeit herausholen und in eine industrialisierte Gesellschaft hineinführen. Wir streben danach, in Indien eine leninistisch-trotzkistische Partei, die der Errichtung einer sozialistischen Föderation Südasiens verpflichtet ist, als Teil einer wiedergeschmiedeten Vierten Internationale aufzubauen.
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