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Spartakist Nummer 210

Oktober 2015

Über die Tiananmen-Unruhen in China 1989

Nachstehend drucken wir einen Beitrag aus Workers Vanguard Nr. 1070, 12 Juni, von Joseph Seymour ab, Mitglied des Zentralkomitees der Spartacist League/U.S., über unsere Auffassung zu den Massenprotesten in China vom Mai/Juni 1989, die sich hauptsächlich auf dem Tiananmen-Platz in Beijing abspielten. Dieser Beitrag war eine Antwort auf einen langjährigen Leser von Zeitungen der Internationalen Kommunistischen Liga, der sich in einem Brief an einen Genossen zu unserem Artikel „Hongkong-Proteste: Speerspitze kapitalistischer Konterrevolution“ (Spartakist Nr. 206, Januar 2015, übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1054, 17. Oktober 2014) geäußert hatte.

Der Leser, der verschiedene nützliche Beobachtungen über politische Entwicklungen in Hongkong beisteuerte, kritisierte an dem Artikel die Einschätzung des Tiananmen-Aufstands, der das stalinistische Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) unter Deng Xiaoping an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Er schrieb: „Es wurde überschätzt, wie weit 1989 der Bruch ging zwischen dem Gros der Arbeiterklasse (vor allem in den Staatsunternehmen) und der KPCh“, und stellte auch unsere Darstellung infrage, welche Rolle die Arbeiterverteidigungsgruppen bei den Protesten spielten und welches Ausmaß die anschließenden Repressionsmaßnahmen gegen die Arbeiter hatten.

Die Imperialisten und die bürgerlichen Medien stellen die Ereignisse vom Frühjahr 1989 fälschlicherweise als eine Bewegung für kapitalistische Konterrevolution unter dem Banner westlicher „Demokratie“ dar. Die soziale Explosion wurde durch Proteste ausgelöst, die von Studenten auf Beijings Tiananmen-Platz ausgingen, immer mehr Gruppen von Arbeitern anzogen und sich über das ganze Land ausbreiteten. Die chinesischen Arbeiter strebten keineswegs eine Rückkehr zum Kapitalismus an, sondern ihre Wut richtete sich überwiegend gegen die stark zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit, die grassierende Korruption und die durch Dengs Programm des „Aufbaus des Sozialismus mit kapitalistischen Methoden“ angeheizte Inflation.

Die Ereignisse vom Mai/Juni 1989 zeigten eindeutig, dass die stalinistische Bürokratie kein neuer Typ einer besitzenden Klasse war, sondern vielmehr eine brüchige und widersprüchliche Kaste, die parasitär über der kollektivierten Wirtschaft thront. Während sich eine herrschende Kapitalistenklasse angesichts einer proletarischen Bedrohung ihrer Herrschaft unweigerlich auf einem Programm der Konterrevolution zusammenschließt, begann die stalinistische Bürokratie, einschließlich des militärischen Offizierskorps, unter der Wirkung des proletarischen Aufruhrs zu zerbrechen.

Die Herrschaft der KPCh-Bürokratie unterminiert den Arbeiterstaat und die vergesellschaftete Wirtschaft, die aus der Revolution von 1949 hervorgingen. Diese Bürokratie muss durch eine proletarisch-politische Revolution weggefegt werden, deren Ergebnis ein Regime ist, das auf Arbeiterdemokratie beruht und das sich im Gegensatz zu der reaktionären, nationalistischen Utopie der stalinistischen Bürokratie vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ einer internationalen sozialistischen Revolution verpflichtet fühlt. Im Gegensatz zum bürgerlichen Parlamentarismus würde sich ein solches Regime auf gewählte Arbeiter- und Bauernräte (Sowjets) stützen. Eine proletarisch-politische Revolution hätte die Verteidigung der kollektivierten Wirtschaft zur Voraussetzung und würde konterrevolutionäre Elemente unterdrücken.

Der Massenaufstand von 1989 war eine im Entstehen begriffene proletarisch-politische Revolution; was vor allem fehlte, war eine leninistisch-trotzkistische Partei, die in die Arbeiterklasse wirklich kommunistisches Bewusstsein hineinträgt. Eine solche revolutionäre Partei wäre notwendigerweise internationalistisch und würde die Verteidigung des chinesischen Arbeiterstaats mit dem Kampf für proletarische Revolutionen in den imperialistischen Zentren verbinden, um eine internationale Planwirtschaft zu errichten und die Grundlage für den Aufbau einer sozialistischen Welt des materiellen Überflusses zu schaffen. Die Internationale Kommunistische Liga kämpft für den Aufbau einer revolutionären internationalen Partei, einer wiedergeschmiedeten Vierten Internationale, die das notwendige Instrument dafür ist, die Arbeiterklasse international an die Macht zu führen.

* * * * *

Unser Leser hat einige Kritik an dem Abschnitt des Artikels in WV Nr. 1054, der sich mit der Krise vom Frühjahr 1989 in China beschäftigt. Um diese Kritik zu untersuchen und auf sie zu antworten, möchte ich damit beginnen, unsere damalige Einschätzung noch einmal darzustellen.

Wir schrieben, die studentischen Proteste an sich hätten „teilweise den Charakter von politischem Theater (einschließlich einer Statue der ,Göttin der Demokratie‘) und einer Politik, auf das Regime Druck auszuüben“ (siehe Spartakist Nr. 62, Juni/Juli 1989), gehabt. Doch diese Proteste erhielten überall Sympathie und Unterstützung von der Masse der Werktätigen. So stieß Mitte Mai der erste Versuch des KPCh-Regimes, die Armee zur Niederschlagung der Proteste einzusetzen, auf spontanen Massenwiderstand, als Militärkonvois Beijing zu durchqueren versuchten. Zehntausende Menschen strömten auf die Straßen und behinderten die Truppenbewegungen, wobei sie die Soldaten und Offiziere anflehten, nicht mit Gewalt gegen die protestierenden Studenten vorzugehen. Daraufhin wartete das Regime ab und ließ zu, dass die Proteste weitere zweieinhalb Wochen andauerten.

Der Einsatz des Militärs zur Auflösung der Tiananmen-Proteste Anfang Juni löste im übrigen Beijing und auch in anderen Großstädten militante Massenproteste aus – die in großem Umfang Arbeiter- und plebejische Jugendliche einbezogen. Damals schrieben wir:

„Während regierungstreue Streitkräfte noch das Zentrum von Peking besetzt halten, befindet sich die übrige Stadt in den Händen der aufständischen Arbeiter und Studenten: ‚Überall in Peking reagierten die Menschen auf das Morden, indem sie Fahrzeuge in Brand setzten und Barrikaden errichteten. Die Truppen hatten nur ein paar bedeutende Zufahrtsstraßen unter Kontrolle, sonst behielten die Einwohner die Kontrolle über die Straßen‘ (New York Times, 5. Juni). In der großen Industriemetropole Schanghai haben studentische Aktivisten und kämpferische Arbeiter Barrikaden aus Bussen, Lastwagen und Autos errichtet. Ein De-facto-Generalstreik hat das Wirtschaftsleben zum Stillstand gebracht. In der zentralchinesischen Industriestadt Wuhan halten Arbeiter und Studenten die Brücke über den Jangtsekiang besetzt, ein wesentliches Verbindungsglied zwischen Nord- und Südchina.“ („Massaker in Peking – China vor dem Bürgerkrieg“, Spartakist Nr. 62, Juni/Juli 1989)

Wir charakterisierten diese Protestaktionen als eine im Entstehen begriffene proletarisch-politische Revolution.

Unsere Auffassung von den Ereignissen in China im Frühjahr 1989 wurde zusammenfassend dargestellt in dem von der Zweiten Internationalen Konferenz der IKL im Herbst 1992 angenommenen Dokument:

„Die um sich greifende Korruption der Staatsbediensteten und das Auftauchen von neureichen Kleinkapitalisten nährten zusammen mit der steigenden Inflation und Arbeitslosigkeit wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die in der Krise von 1989 an die Oberfläche kam. Obwohl die auf Studenten basierende ‚Demokratie‘-Bewegung Illusionen in den Parlamentarismus westlichen Stils hatte, wollten die werktätigen Massen, die auf die Straße gingen, eine Rückkehr zu wirtschaftlicher Gleichheit und Sicherheit, eine Wiederherstellung der ,eisernen Reisschüssel‘.

Das Deng-Regime beschloss, die Massenproteste zu unterdrücken, und befahl loyalen Armee-Einheiten, ein Massaker zu verüben. Im Gegensatz zu westlicher imperialistischer Propaganda waren die Hauptopfer dieses Blutbads nicht die studentischen Aktivisten, von denen sich die meisten unversehrt vom Tienanmen-Platz zurückzogen, sondern vielmehr junge Arbeiter in Beijing und anderen Städten. In den Tagen nach dem Massaker von Beijing – als die Haltung der Armee als ganzes noch fraglich war – stand China am Rande einer proletarisch-politischen Revolution.“ („Für den Kommunismus von Lenin und Trotzki!“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 15, Frühjahr 1993)

In den folgenden zwei Jahrzehnten haben wir die oben zitierte Einschätzung nach weiteren empirischen Untersuchungen und Diskussionen nicht wesentlich geändert, geschweige denn rückgängig gemacht.

Unser Leser präsentiert eine wesentlich andere Einschätzung. Um diese Einschätzung zu bekräftigen, empfiehlt er nachdrücklich ein Buch von Zhao Dingxin, The Power of Tiananmen: State-Society Relations and the 1989 Beijing Student Movement [Die Macht von Tiananmen: staatlich-gesellschaftliche Beziehungen und die Beijinger Studentenbewegung von 1989] (University of Chicago Press, 2001). (Die Herausgeber benutzten das englische Format mit Zhaos Familiennamen an zweiter Stelle.)

Zhao war im Frühjahr 1989 ein junger chinesischer Intellektueller, der an einer kanadischen Universität seinen Abschluss in Insektenkunde machte. Nachdem er im April aus Studien- und persönlichen Gründen China besucht hatte, war er im Mai nach Kanada zurückgekehrt, wo er die anschwellenden Proteste und die politische Krise aus der Ferne verfolgte. Die Niederschlagung der Tiananmen-Proteste brachte ihn dazu, sein intellektuelles Hauptinteresse von der Naturwissenschaft zur Sozialtheorie zu verlagern. Schließlich wurde er Professor am Fachbereich Soziologie an der Universität von Chicago. 1993 und 1997 besuchte Zhao China, wo er mit vielen jungen Intellektuellen, die als Studentenaktivisten an den Tiananmen-Protesten von ’89 teilgenommen hatten, Interviews führte. Diese Interviews (zusammen mit dokumentarischem Material von damals) sind die Hauptquelle für die in The Power of Tiananmen vorgelegte empirische Analyse.

Von der politischen Grundeinstellung her ist das Buch ein Ausdruck der Ideologie vom „Tod des Kommunismus“, die in der nachsowjetischen Ära bei westlichen bürgerlichen Intellektuellen allgemein verbreitet ist. In der Zusammenfassung behauptet Zhao, dass für die KPCh-Führung die einzige Alternative zur militärischen Unterdrückung darin bestanden hätte, im Laufe eines „Übergangs zur Demokratie“ die politische Macht abzugeben, wie es seiner Meinung nach 1989–92 im ehemaligen Sowjetblock geschehen ist:

„Ist eine soziale Bewegung von derart großem Ausmaß einmal in Schwung gekommen, stehen einem Staat wie dem gegenwärtigen China tatsächlich wenig Mittel zur Konfliktlösung zur Verfügung. Oft bleiben dem Staat nur zwei Möglichkeiten: Kapitulation oder Unterdrückung. Wenn eine Generation ohne revolutionäre Erfahrung vor diese Alternative gestellt wird, verteidigt sie das Regime wohl nicht mit Hilfe blutiger militärischer Unterdrückung, wie die Ereignisse in der ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern deutlich gezeigt haben. Selbst wenn sich einige Führer für Unterdrückung entscheiden sollten, würden wohl die eher professionell ausgebildeten Soldaten die Befehle nicht länger befolgen. In der ehemaligen Sowjetunion machte eine abrupte Kapitulation, statt eines allmählichen Wechsels, den Übergang zur Demokratie so schmerzlich.“

Um eine Wiederholung der katastrophalen Erfahrung des ehemaligen Sowjetblocks zu vermeiden, befürwortet Zhao die allmähliche „Demokratisierung“ Chinas von oben:

„Daher sollten die gegenwärtigen chinesischen Führer politische Reform ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Das soll nicht heißen, dass China irgendein bestimmtes politisches System aus dem Westen kopieren sollte. Doch das Ziel einer solchen politischen Reform muss es sein, dass man dahin kommt, die Grundlage der Staatsmacht nicht mehr mit Ideologie und Leistung zu legitimieren, sondern mit gesetzlich verankerten Wahlen. Die Reform sollte mindestens beinhalten, den Marxismus als Staatsideologie formal abzuschaffen, die Kommunistische Partei in eine sozialistische Partei umzubenennen, ein unabhängiges Rechtssystem zu schaffen und stufenweise einen Wahlwettbewerb einzuführen, bei dem es den Kandidaten nur um das Amt und nicht um gegensätzliche Ideologien gehen soll.“

Offenbar teilt unser Leser Zhaos Programm für eine „bürgerlich-demokratische“ Konterrevolution in China nicht. Doch es ist nicht klar, ob er mit Zhao darin übereinstimmt, dass das KPCh-Regime, wenn es im Frühjahr 1989 zusammengebrochen wäre, zwangsläufig durch eine chinesische Version von Polens Lech Walesa oder Russlands Boris Jelzin ersetzt worden wäre. Wahrscheinlich stimmt er mit der Analyse von Zhao eher in dem engeren empirischen Sinn überein, wie dieser die tatsächlichen Ereignisse wiedergibt.

Arbeiter, Studenten und die Auswirkungen der „Marktreformen“

Bevor ich auf Zhaos empirische Untersuchung und Analyse eingehe, möchte ich seine Auffassungen mit denen von Wang Hui vergleichen, der in den 1990er-Jahren als bekanntester linksintellektueller Kritiker in Chinas akademischem Milieu in Erscheinung trat. Wang identifizierte sich mit der Hauptströmung der extremen Linken im Westen, die in der „Anti-Globalisierungs“-Protestbewegung Anfang der 2000er-Jahre vorübergehend einen organisatorischen Ausdruck fand. Er war zufällig Dozent an der Universität von Washington, als Ende 1999 in Seattle die erste größere „Anti-Globalisierungs“-Demonstration stattfand. Vielleicht war Wang von diesem Ereignis beeinflusst, als er in einer ausführlichen Abhandlung das, was er als „soziale Bewegung von 1989“ in China bezeichnete, im Nachhinein analysierte. Im Unterschied zu Zhao Dingxin hatte Wang Hui an den Tiananmen-Protesten persönlich teilgenommen. Nach eigener Aussage gehörte er zu einer der letzten Studentengruppen, die am 4. Juni frühmorgens den Platz verließen.

Zurückblickend machte er einen grundlegenden Unterschied, was Einstellung und Erwartungen angeht, zwischen den protestierenden Studenten und der Masse der arbeitenden Menschen, die mit den Protesten sympathisierten und sie unterstützten. Die meisten jungen chinesischen Intellektuellen begrüßten die marktorientierten wirtschaftlichen „Reformen“: seit Maos Tod, die sie mit größerer persönlicher Freiheit in Verbindung brachten, und waren für deren Ausweitung. Die Masse der Werktätigen wehrte sich gegen die negativen Auswirkungen der „Reformen“ – steigende Inflation, Arbeitslosigkeit unter jugendlichen Berufsanfängern, Unsicherheit des Arbeitsplatzes für Arbeiter in Staatsbetrieben sowie im wachsenden privaten Sektor, weit verbreitete Vetternwirtschaft und Korruption unter den KPCh-Funktionären.

Über diese Unterschiede schrieb Wang:

„Als Gruppe genommen fehlte den Intellektuellen jedoch nicht nur die Fähigkeit, praktische soziale Ziele anzubieten, sondern sie verstanden auch nie das volle Ausmaß der gesellschaftlichen Mobilisierung, die stattgefunden hatte. Das lag zum Teil daran, dass die intellektuelle Bewegung, die an den Praktiken des Staatssozialismus Kritik hatte, aufgrund der Denkweise in der Gesellschaft der 1980er-Jahre die damals typischen sozialen Widersprüche weder wahrnehmen noch begreifen konnte. Man konnte weder die in der gesellschaftlichen Basisbewegung vorhandenen sozialistischen Tendenzen verstehen noch die intellektuellen Scheuklappen der Ideologie des Kalten Krieges ablegen. Es ist notwendig, zwischen zwei Konzeptionen des Sozialismus zu unterscheiden: Die eine ist der ,Sozialismus‘ der alten Staatsideologie, gekennzeichnet durch ein System des Staatsmonopols; die andere ist die Bewegung für soziale Sicherheit, die sich aus diesem System des Staatsmonopols und der Ausbreitung des Marktsystems entwickelte, gekennzeichnet durch ihre Gegnerschaft zum Monopol und ihre Forderungen nach sozialer Demokratie.“ („The 1989 Social Movement and the Historical Roots of China’s Neoliberalism“ [Die soziale Bewegung von 1989 und die historischen Wurzeln von Chinas Neoliberalismus] in China’s New Order: Society, Politics, and Economy in Transition, Harvard University Press, 2003)

Hier möchte ich (sozusagen in Klammern) etwas zu Wangs falscher Verwendung des Begriffs „Neoliberalismus“ in Bezug auf China bemerken. Bei westlichen Linken ist es üblich, oder war es jedenfalls, die unter Deng und seinen Nachfolgern betriebene marktorientierte Wirtschaftspolitik mit der Ideologie und dem Programm des Neoliberalismus gleichzusetzen. Auch bürgerliche Intellektuelle im Westen behaupten im Allgemeinen, dass in China nach Maos Tod der Kapitalismus in der einen oder anderen Form wiedereingeführt worden sei. Trotzdem erkennen letztere an, dass sich Chinas Wirtschaftssystem vom Kapitalismus, und erst recht vom Neoliberalismus, grundlegend unterscheidet. Die von westlichen Akademikern und Wirtschaftsjournalisten bevorzugte Bezeichnung für Chinas Wirtschaftssystem ist „Staatskapitalismus“. Durchgehend verwendet wird diese Bezeichnung für China zum Beispiel von dem leitenden Wirtschaftskommentator der Londoner Financial Times, Martin Wolf, in einem jüngst erschienenen Buch über die globale Wirtschaft nach 2008, The Shifts and the Shocks: What We’ve Learned – and Have Still to Learn – from the Financial Crisis [Die Verschiebungen und die Schocks: Was wir aus der Finanzkrise gelernt haben – und noch lernen müssen] (Penguin Press, 2014). Außerdem beurteilt Wolf, ein hochangesehener und einflussreicher bürgerlicher Intellektueller, Chinas keynesianisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik im Vergleich zur Politik der Führer der kapitalistischen Welt wohlwollend:

„Die große Rezession, die nach dem Höhepunkt der Finanzkrise Ende 2008 und Anfang 2009 einsetzte, hat viele Schwellen- und Entwicklungsländer hart getroffen. Diejenigen, die am wenigsten getroffen wurden – allen voran China – mussten mutige politische Entscheidungen treffen, um die Auswirkungen des Schocks auf ihre Wirtschaft zu kompensieren. Diese Entscheidungen schufen auch schwierige längerfristige Herausforderungen.

Dennoch war das Ergebnis eine Zunahme der ohnehin schon rasanten Verschiebung der Kräfte in der Weltwirtschaft von den einkommensstarken Ländern hin zu den Schwellenländern, insbesondere China.“

Für aufgeklärte bürgerliche Intellektuelle wie Martin Wolf steht Chinas angeblicher „Staatskapitalismus“ am anderen Ende des ideologischen Spektrums wie der Neoliberalismus.

Befangen in liberaler Politik

Wie schon bemerkt, stützt sich Zhao in seiner empirischen Analyse hauptsächlich auf Interviews, die er 1993 und 1997 in China führte. In fast allen diesen Interviews sprach er mit jungen Intellektuellen, die als Studenten an den Tiananmen-Protesten teilgenommen hatten. Die allermeisten Interviewpartner, die an den Aktionen teilgenommen hatten, welche nach Ausrufung des Kriegsrechts am 20. Mai die Militäreinheiten am Vordringen zum Tiananmen-Platz gehindert hatten, waren ebenfalls Studenten. Und es gab gar keine Interviews mit denjenigen (z. B. jungen Arbeitern und jungen plebejischen Arbeitslosen), die bei den militanten Protesten unmittelbar nach der militärischen Räumung des Tiananmen-Platzes mitgemacht hatten. Zhaos Erlebnisbericht sowie der Terminkalender von den Ereignissen am Anfang des Buches The Power of Tiananmen enden beide am 4. Juni.

Aus der unausgewogenen Auswahl der Interviewpartner ergibt sich ein Bild von China im Frühjahr 1989, als ob liberal gesinnte Studenten und ihre Ideologie der „reinen Demokratie“ die einzig mögliche Opposition zur fortgesetzten „autoritären“ Herrschaft der KPCh gewesen wären. Was Wang Hui als die „sozialistischen Tendenzen“ bei den arbeitenden Massen bezeichnet, wird in diesem Buch ausgeklammert.

Der einseitige Charakter von Zhaos empirischer Untersuchung wird deutlich, wo es um die Beijing Workers’ Autonomous Union (auch bekannt als Beijinger Unabhängige Arbeiterföderation) geht. In seiner Analyse von dieser Gruppe stützt er sich teilweise auf Interviews mit daran beteiligten führenden studentischen Aktivisten. Offensichtlich führte er kein Interview mit Arbeitern aus der Gruppe. Jedenfalls werden in dem relevanten Teil seines Buches keine Arbeiter zitiert.

Das wohl wichtigste Ereignis in Beijing während des Frühjahrs 1989 fand nicht auf dem Tiananmen-Platz statt. Sondern in den Arbeiterbezirken und anderen einfachen Wohnvierteln, deren Bewohner die Militäreinheiten am Vordringen zum Tiananmen-Platz effektiv hinderten. Die Untersuchung dieses zentralen Ereignisses spielt in Zhaos Buch kaum eine Rolle im Vergleich zu der umfassenden Berichterstattung über die Studentenproteste und die verschiedenen daran beteiligten konkurrierenden Gruppierungen. Als das Kriegsrecht ausgerufen wurde, räumten zahlreiche Demonstranten den Tiananmen-Platz, und einige führende Studentenaktivisten gingen in den Untergrund oder bereiteten sich darauf vor. Erst als die Truppen in den Außenbezirken zum Kehrtmachen gezwungen wurden, kehrten die Studenten zurück, die den Tiananmen-Platz verlassen hatten. Die Besetzung dort ging weiter, vor allem durch den Zustrom von Studenten aus anderen Städten.

Um zu vermeiden, dass sich die Ereignisse vom ersten Versuch eines militärischen Durchgreifens wiederholen, wurde Anfang Juni eine große Anzahl von Soldaten ohne Waffen und in Zivil durch Beijing geschleust. Als sie sich dann dem Tiananmen-Platz näherten, wurden sie mit Waffen versorgt. Dass die Führung der KPCh/Volksbefreiungsarmee auf diese ungewöhnliche Taktik zurückgriff, zeigte, dass sie das Ausmaß der Unterstützung in der Bevölkerung für die Studentenproteste erkannt hatte.

Zhaos empirische Analyse untermauert doch teilweise einen der Kritikpunkte unseres Lesers. Das bezieht sich auf den Charakter der Beteiligung der organisierten Arbeiterklasse an den Tiananmen-Protesten. Am 18. Mai wurde die Beijinger Unabhängige Arbeitergewerkschaft auf Initiative einiger führender Studentenaktivisten gegründet. Die Gruppe zog nur wenige Arbeiter an. Die wichtigsten im Namen der Gewerkschaft herausgegebenen Dokumente wurden von jungen Intellektuellen verfasst, die in den verschiedenen Studentenorganisationen aktiv waren. Die Protestaktionen, an denen Arbeiter dieser Gruppe teilnahmen, wurden von Führern der Studentenorganisationen angeleitet. Zhao zieht den meiner Meinung nach richtigen Schluss: „Wenn wir die Rolle der Beijinger Unabhängigen Arbeitergewerkschaft anhand solcher Kriterien wie Führung, Herkunft der Materialien sowie Hauptaktivitäten und Teilnehmerzahl untersuchen, so wird deutlich, dass die Gewerkschaft im Grunde nur ein Anhängsel der Studentenbewegung war.“ Selbst daraus folgt aber nicht, dass die wenigen Arbeiter, die in dieser Gruppe Mitglieder waren, auch die gleichen politischen Ansichten hatten wie die jungen Intellektuellen, von denen sie organisiert und in ihren Aktivitäten angeleitet wurden.

In diesem historischen Augenblick war es Angehörigen der Arbeiterklasse nicht möglich, politisch und organisatorisch unabhängig von dem Gros der aktiven Studenten in die Tiananmen-Proteste einzugreifen. Die verschiedenen Studentenorganisationen, die sich im Laufe der Proteste bildeten, waren sozusagen ausgebrütet worden in dem breiten regime-kritischen Milieu, das Mitte und Ende der 1980er-Jahre an Beijings Universitäten entstanden war. Einige führende Studentenaktivisten hatten an Diskussionszirkeln teilgenommen, die sich um Professoren sammelten, welche sich zum KPCh-Regime und zu seiner Geschichte etwas kritisch äußerten. Im Vergleich zu Universitätsstudenten waren die Arbeiter in Beijings Fabriken atomisiert und verfügten über keine Rahmenbedingungen, um diskutieren und gemeinsame politische Ansichten entwickeln zu können, und hatten erst recht keine eigenständigen Organisationen.

Doch das heißt nicht, dass die unausgereiften politischen Einstellungen der meisten chinesischen Arbeiter mit denen der liberal gesinnten jungen Intellektuellen übereinstimmten. Und es heißt auch nicht, dass sie das KPCh-Regime unterstützten, wie unser Leser behauptet:

„Kurz gesagt versuchten die Studenten und ihre Unterstützer, eine ,unabhängige Arbeiterbewegung‘ im Stile von Solidarność als Anhängsel der ,Demokratiebewegung‘ zustande zu bringen. Sie scheiterten damit, weil das Gros der Arbeiterklasse ihre Botschaft nicht beachtete und sich zur KPCh weitgehend loyal verhielt.“

Ich denke, er versteht nicht die besonderen historischen Bedingungen dafür, dass 1980/81 in Polen die Masse der Arbeiter auf konterrevolutionärer Grundlage mobilisiert wurde. Die organisatorische Basis für Solidarność bildete die römisch-katholische Kirche, die seit 1956 als quasi-offizielle Opposition zum Warschauer KP-Regime operierte. Der Zirkel sozialdemokratischer Intellektueller (z. B. Jacek Kuron, Adam Michnik), die an der Gründung von Solidarność beteiligt waren, spielte die Rolle von politischen Strohmännern für die katholische Hierarchie unter dem polnischen Papst Wojtyla. Die politische Autorität der katholischen Kirche hing eng zusammen mit der starken Verbreitung von antirussischem (d. h. antisowjetischem) polnischen Nationalismus. Keiner von diesen Faktoren konnte oder kann eine Rolle dabei spielen, Arbeiter in China auf konterrevolutionärer Grundlage zu mobilisieren.

Das Ausmaß der Illusionen in bürgerliche Formen von „Demokratie“ – eine Regierung angeblich auf der Grundlage von freien Wahlen mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht – ist eine andere Frage, welche mit Sicherheit auf uns zukommen wird und der wir uns stellen müssen, wenn sich in der politischen Lage von China eine Öffnung ergibt.

 

Spartakist Nr. 210

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