Spartakist Nr. 160

Herbst 2005

 

Israelische Truppen, Siedler raus aus allen besetzen Gebieten!

Zionisten verlassen Gaza-Ghetto

Für eine sozialistsche Föderation des Nahen Ostens!

28. August – Am 4. August, kurz bevor Ariel Scharon die Siedler aus dem Gazastreifen evakuierte, eröffnete im nördlichen Israel ein ultrachauvinistischer Unterstützer der Siedler das Feuer auf einen Bus voller Araber, er tötete vier Personen und verwundete mehrere andere. Zwei Wochen später startete ein Siedler im Westjordanland einen blutigen Amoklauf und ermordete vier Palästinenser. Letzte Woche begingen israelische Soldaten im Flüchtlingslager Tulkarem im Westjordanland ein weiteres Massaker, sie ermordeten insgesamt fünf Menschen, von denen es hieß, sie seien palästinensische Kämpfer gewesen. Der Gazastreifen ist weiterhin von einem Elektrozaun umschlossen. Die Westbank wird von einer Ghettomauer durchschnitten und ist zerstückelt durch militärische Kontrollposten und vom Militär kontrollierte Straßen, die nur von Juden benutzt werden dürfen. Hunger, Krankheiten, Elend und Hoffnungslosigkeit quälen die palästinensische Bevölkerung der besetzten Gebiete. Das ist das wahre Gesicht des gepriesenen „Rückzugs“ des zionistischen Israels.

Die heutige Situation ist das Ergebnis von jahrzehntelangem Landraub durch die Zionisten, begünstigt durch den Verrat der nationalistischen Führer des palästinensischen Volkes. 1971 erklärte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), sie sei dagegen, einen palästinensischen Staat zu akzeptieren, der weniger als das gesamte als Israel bekannte Gebiet und die besetzten Gebiete umfasse. Drei Jahre später trat die PLO für einen „Ministaat“ auf der Westbank ein und stellte dies als einen Übergangsschritt zu einem „demokratischen, säkularen Palästina“ dar. 1988 akzeptierte die PLO explizit die Existenz des zionistischen Staates, der seinem Wesen nach die Palästinenser ausschließt, und 1993 unterzeichneten die PLO und Israel ein von den USA vermitteltes Abkommen, die Osloer Verträge, worin die PLO sich einverstanden erklärte, im Austausch für palästinensische „Autonomie“ die besetzten Gebiete für die zionistischen Herrscher zu überwachen.

Inzwischen beschloss nun die Regierung von Ariel Scharon, dem Schlächter der palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila im Libanon 1982, dass israelischen nationalen Interessen am besten gedient sei durch den Abzug von ca. 8000 Siedlern aus dem Gazastreifen – einem Gebiet von etwa der Größe des New Yorker Stadtteils Queens – und aus vier Siedlungen auf der Westbank. Der Abzug findet statt, während gleichzeitig sehr viel mehr Siedlungen auf der Westbank und in Ostjerusalem gebaut werden, die immer mehr palästinensisches Land verschlingen. Die Palästinensische Autonomiebehörde demonstriert erneut den Bankrott des kleinbürgerlichen Nationalismus, sie spricht heute davon, „unser Land aufzubauen“ im Gazastreifen: eine winzige, staubige Landparzelle, in der 1,3 Millionen verarmte Palästinenser eingesperrt sein werden, umzingelt und unter der Knute des israelischen Militärs. Scharons Vizepremierminister, Ehud Olmert, betonte, dass das israelische Militär jetzt besser in der Lage sei, das desolate Ghetto zu überwachen. Die New York Times (11. August) zitierte Olmert mit der Aussage, der Abzug „wird nicht die Fähigkeit der israelischen Sicherheitskräfte mindern, zu reagieren“, und schrieb dazu: „Ohne israelische Siedler in Gaza, deutete [Olmert] an, könnte die Armee sogar noch härter zuschlagen.“

Dass Scharon die Siedler aus dem Gazastreifen entfernte, womit er eine zuvor von der Arbeitspartei vorgeschlagene Politik umsetzte, wurde als ein Schritt vorwärts für die unterdrückten Palästinenser propagiert, und zwar nicht nur von Sprechern der Imperialisten, sondern auch von linken Hurraschreiern für den so genannten palästinensischen „Widerstand“. Die Workers World Party (WWP), eine pseudosozialistische Organisation, die die Antikriegskoalition ANSWER initiierte, bejubelt den „Sieg des standhaften palästinensischen Widerstands“ wegen der „Tatsache, dass Israel gezwungen ist, sich zurückzuziehen“ (Workers World, 18. August). Die WWP begeistert sich: „Die Stimmung des fortdauernden Widerstands in Gaza zeigt sich in Plakaten, auf denen steht: ,Heute Gaza, morgen Jerusalem und die Westbank‘ und ,Der Widerstand siegt – lasst uns vorwärts gehen!‘“ Die WWP hatte früher eher linke, säkulare Varianten des arabischen Nationalismus propagiert, heute bejubelt sie einen „Widerstand“, der von den frauenfeindlichen, antisemitischen islamischen Reaktionären von Hamas dominiert wird.

Zeitungen und Fernsehen zeigten weinende Siedlerfamilien und widerstrebende israelische Soldaten und stellten dem Szenen von jubelnden, Flaggen schwingenden Palästinensern entgegen. Zweifellos freuen sich Palästinenser über den Abzug der verhassten Siedler aus dem Gazastreifen nach 38 Jahren. Sie sind jedoch nicht so euphorisch, wie man es aus den westlichen kapitalistischen Medien schlussfolgern könnte (oder aus Workers World und ihresgleichen). Ein 12-jähriger Junge gab an, seine Hoffnung für die Zukunft sei es, „die Treppen nach oben zu gehen“: Vor fünf Jahren übernahm die israelische Armee die oberen zwei Stockwerke des Hauses, in dem er wohnt. In „einer Sprache verminderter Erwartungen“, so der Reporter, sagte eine alte Frau: „Wenn Gott es so will, hoffen wir auf das Beste, für uns und für sie. Wir bitten nur die Vereinten Nationen und die UNRWA [UN-Flüchtlingshilfswerk], uns eine Abwasserleitung zu legen“ (Middle East Report Online, 19. Mai).

Es ist notwendig, den vollständigen, bedingungslosen Rückzug aller israelischen Truppen und Siedler aus allen besetzten Gebieten zu fordern, einschließlich Ostjerusalem und Golanhöhen, und ebenso die sofortige Entfernung aller gegen Araber gerichteten Befestigungen – dazu gehören die militärischen Kontrollposten, die Mauern und Zäune und das Apartheid-Straßennetz. Ungeachtet dessen, was WWP und palästinensische Nationalisten sagen, ist es vollkommen töricht, zu glauben, dass der gegenwärtige „Abzug“ aus dem Gazastreifen zu einem palästinensischen Staat einschließlich der Westbank und Ostjerusalems führen wird. Scharon machte das klar: Zeitgleich mit der Evakuierung von Gaza startete er ein massives Programm zum Bau neuer Siedlungen im Westjordanland.

Selbst wenn es den Palästinensern gelänge, in diesen Gebieten einen Ministaat zu erlangen – ökonomisch nicht lebensfähig und unter israelischer Oberherrschaft –, wäre das wohl kaum die Verwirklichung palästinensischer Selbstbestimmung. Wirkliche Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes ist unmöglich ohne die Zerschlagung sowohl des zionistischen Staats Israel, dessen Existenz auf der Unterdrückung des palästinensischen Volkes basiert, als auch des haschemitischen Königreichs Jordanien, dessen Bevölkerung zu etwa 60 Prozent aus Palästinensern besteht.

Im Gegensatz zu diversen „linken“ Bejublern des arabischen Nationalismus haben wir immer darauf bestanden, dass die nationale Befreiung der Palästinenser nicht auf Kosten des nationalen Existenzrechts des hebräischsprachigen Volkes umgesetzt werden darf. Angesichts der Tatsache, dass die hebräischsprachigen und palästinensisch-arabischen Bevölkerungen einander durchdringen – zwei Völker, die Anspruch auf dasselbe Gebiet erheben –, liegt die einzige gerechte Lösung der nationalen Frage im revolutionären Sturz sämtlicher bürgerlicher Regime in der Region. Nur durch die Errichtung einer geplanten Wirtschaft in einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens können zueinander in Konflikt stehende Ansprüche auf Land und Wasser gerecht gelöst und alle Sprachen, Religionen und Kulturen gleichgestellt werden.

Der israelische Abzug aus dem Gazastreifen und aus einer Hand voll Siedlungen auf der Westbank ist eine Karikatur des Deals „erst Gaza/Jericho“, dem ersten Schritt des Osloer „Friedens“abkommens 1993, durch das die Palästinensische Autonomiebehörde entstand. In einem Artikel mit der Überschrift „Israel/PLO-Deal: Palästinenser-Ghetto“ schrieben wir: Dieses Abkommen „ist keinerlei Ausdruck von Selbstbestimmung, auch nicht in irgendeiner äußerst deformierten Weise“, und es würde „der nationalen Unterdrückung der seit langem leidenden palästinensischen Massen die offizielle Zustimmung der PLO geben“ (Workers Vanguard Nr. 583, 10. September 1993). Wir fügten hinzu:

„Diese grotesken Geschäfte auf dem Rücken des unterjochten palästinensischen Volkes sind ein Wendepunkt im Nahen Osten. Durch diese Aktion hat die PLO fundamentalistische Reaktionäre wie Hamas dazu eingeladen, als die einzigen Kämpfer gegen die zionistische Besatzung zu posieren. Der kleinbürgerliche arabische Nationalismus hat sich als die bankrotte und impotente Sackgasse erwiesen, die er schon immer gewesen ist.“

Dieser Deal, der von der Arbeitspartei Jitzhak Rabins umgesetzt wurde, führte in den folgenden Jahren direkt zur Verdopplung der Anzahl der Siedler in den besetzten Gebieten. Die Palästinenser, denen es zuvor gelungen war, sich als Niedriglohn-Arbeiter im israelischen Bauwesen und in der Landwirtschaft durchzuschlagen, waren nun im Wesentlichen auf ihre abgetrennten Dörfer und armseligen Flüchtlingslager beschränkt und von der Möglichkeit, einen Lebensunterhalt zu verdienen, abgeschnitten; sie wurden durch Wanderarbeiter aus Osteuropa und Südostasien ersetzt. Eine Bevölkerung, die einst zu den gebildetesten und kosmopolitischsten des Nahen Ostens zählte, gerät heute zunehmend unter den Einfluss der islamischen Reaktion. Während der ersten Intifada in den späten 80er-Jahren entstand eine Vielzahl von Frauenorganisationen, die traditionelle Werte in Frage stellten, aber heute werden palästinensische Frauen, besonders im Gazastreifen, zunehmend dazu gezwungen, den Schleier zu tragen, und viele wurden Opfer von „Ehren“morden.

Heute, wo die Fatah-Bewegung von Mahmoud Abbas, Jassir Arafats Nachfolger, zunehmend diskreditiert und verachtet wird, bringt die Hamas sich in Stellung, um daraus das größtmögliche politische Kapital zu schlagen. Im Verlauf des letzten Jahres errangen Hamas-Kandidaten schätzungsweise 60 Prozent aller Sitze bei Regionalwahlen im Gazastreifen und im Westjordanland. In der Stadt Kalkilja im Westjordanland gewann die Hamas-Liste alle 15 zu besetzenden Positionen, was gesehen wurde als „Protest nicht nur gegen die Geschichte der Fatah in Sachen Misswirtschaft, sondern auch gegen die Machtlosigkeit der Fatah, die nicht verhindern konnte, dass die Stadt rundum durch Israels Mauer eingeschlossen ist“ (Middle East Report Online, 21. August). Hamas hat auch die Absicht, bei den Wahlen für eine gesetzgebende Versammlung zu kandidieren, die für nächsten Januar geplant sind.

Die Selbstmord-Bombenanschläge, die von Gruppen wie Hamas gegen unschuldige israelische Zivilisten durchgeführt werden – im Gegensatz zu Angriffen auf das israelische Militär und dessen bewaffnete Siedler-Hilfstruppen – sind kriminelle Terrorakte, die nur die Auswirkung haben können, jegliche Risse in der israelischen Gesellschaft zu kitten. Der Ausgangspunkt für alle, die für soziale Gerechtigkeit und die nationale Befreiung der unterdrückten Palästinenser kämpfen, muss sein, dass Israel ebenso wie die benachbarten arabischen Länder eine kapitalistische Gesellschaft ist mit einer Klassenlinie zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Zum Proletariat gehören nicht nur aschkenasische Juden europäischer Herkunft, sondern auch die stärker geknechteten sephardischen Juden aus dem Nahen Osten und eine zutiefst unterdrückte palästinensisch-arabische Minderheit.

Der seiner Natur nach unterdrückerische zionistische Staat muss und kann nur von innen hinweggefegt werden, durch eine proletarische Revolution, die palästinensische und hebräischsprachige Arbeiter gegen den gemeinsamen Klassenfeind vereint. Damit dies Realität wird, ist es wahrscheinlich notwendig, dass zuvor anderswo eine sozialistische Revolution unter dem Banner des proletarischen Internationalismus siegt. Aber wo immer die hebräische Arbeiterklasse für ihre eigene Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung kämpft, muss sie Vorkämpfer für die nationalen Rechte des palästinensischen Volkes sein. Umgekehrt können die arabischen arbeitenden Massen erst zu einer Perspektive der proletarischen Revolution gewonnen werden, wenn sie von arabischem Nationalismus und Antisemitismus gebrochen werden. Entscheidend notwendig ist die Schmiedung revolutionärer marxistischer Parteien im gesamten Nahen Osten, die gestählt sind im kompromisslosesten Kampf sowohl gegen fundamentalistische Reaktion jeder religiösen Couleur als auch gegen jede Spielart des Nationalismus, wie säkular oder „progressiv“ sie auch auftreten mag. Es gibt keinen anderen Weg. Verteidigt das palästinensische Volk! Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 853, 2. September 2005