Spartakist Nr. 182

März 2010

 

Erdbebenkatastrophe in Haiti:

Imperialismus, Rassismus und Hungersnot

Der nachfolgende Artikel ist übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 951, 29. Januar.

Jedes Land, dessen Hauptstadt von einem Erdbeben der Stärke 7,0 auf der Richter-Skala heimgesucht würde, hätte unter schweren Schäden zu leiden, doch das unvorstellbare Ausmaß der Todesopfer und der Zerstörung in Haiti ist ein Maßstab für die Armut, in der dieses Land von seinen rassistischen, imperialistischen Oberherren gehalten wird. Man geht von über 200 000 Toten aus, und jeden Tag sterben noch viel mehr Menschen aus Mangel an Nahrungsmitteln und sauberem Wasser und an unbehandelten Infektionen. Bis zu drei Millionen Menschen sind obdachlos geworden und versuchen auf den Straßen inmitten der Trümmer zu überleben. Ärzte und Krankenschwestern, die eingeflogen sind, um Hilfe zu leisten, operieren in behelfsmäßigen „Krankenhäusern“ unter freiem Himmel, oft ohne Betäubungsmittel oder sogar ohne die Möglichkeit, ihre Instrumente keimfrei zu machen. Was von der maroden Staatsverwaltung noch übrig war, ist zusammengebrochen, und die Regierung betreibt ihre Geschäfte jetzt von einem Polizeistützpunkt am Flughafen aus.

Haiti, das ärmste Land der Hemisphäre, war den Auswirkungen des Erdbebens völlig schutzlos ausgeliefert. Schon vor der Erdbebenkatastrophe lag die Arbeitslosenquote bei 80 Prozent, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte von weniger als einem Dollar pro Tag und fast jeder zweite Haitianer hatte keinen regelmäßigen Zugang zu Trinkwasser. Da es kaum eine einheimische Arbeiterklasse gibt, sind viele Haitianer auf Geldüberweisungen haitianischer Arbeiter in den USA, Kanada und anderswo angewiesen, die fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Viele Menschen lebten in Blechverschlägen, die bei dem Erdbeben einstürzten, und viele der Betongebäude waren so mangelhaft gebaut, dass sie einfach in sich zusammensackten.

Angesichts der Verelendung und des Fehlens von Infrastruktur ist die haitianische Bevölkerung nun völlig auf internationale Hilfsleistungen angewiesen. Tausende freiwillige Rettungskräfte aus vielen Ländern eilten nach Haiti, um zu helfen. Gleichzeitig verstärkten die Vereinten Nationen ihre 9000 Mann starke Besatzungstruppe um zusätzliche 3500 Soldaten, und die Obama-Regierung beeilte sich, 10 000 Soldaten wie auch Militärflugzeuge und eine Kriegsflottille zu schicken. Während reformistische „Sozialisten“ wie die International Socialist Organisation (ISO) und die Workers World Party (WWP) die USA auffordern, Hilfe ohne die Ausübung amerikanischer militärischer Macht zu leisten, haben wir solche Illusionen nicht. Tatsächlich legen die amerikanischen Streitkräfte in Haiti mehr Wert auf „Sicherheit“ als auf Hilfeleistung. Während viele Flugzeuge mit Hilfslieferungen auf dem Flughafen von Port-au-Prince gelandet sind, der jetzt von den US-Streitkräften kontrolliert wird, wurden andere kriminellerweise umgeleitet, da die USA Flugzeugen mit Militärpersonal bevorzugt Landegenehmigung erteilen.

Vor dem Hintergrund der brutalen Besetzung Afghanistans und des Irak wie auch der sich ausweitenden Luftangriffe in Pakistan bietet die „Hilfsanstrengung“ für Haiti der Obama-Regierung die Möglichkeit, das „humanitäre“ Image des US-Imperialismus aufzumöbeln. Wie wir wiederholt betont haben, ist Obama nach acht Jahren des bizarr dementen Regimes von George W. Bush, das in imperialistischer Arroganz und Barbarei schwelgte, gut geeignet, das weltweit angeschlagene Image des US-Imperialismus wieder aufzupolieren. Doch ob der Oberkommandierende ein Demokrat oder ein Republikaner ist, der US-Imperialismus bleibt die blutigste und raubgierigste imperialistische Macht auf der Erde. Obamas „humanitäre“ Ambitionen in Haiti sind nur eine dünne Fassade über rassistischer Unterdrückung und imperialistischer Unterjochung.

Eine der Hauptbestrebungen der US-imperialistischen Herrscher ist es, Haitianer davon abzuhalten, von der Insel zu flüchten. Deshalb richteten die USA zügig eine umfassende Seeblockade ein, um einen Massenexodus von Flüchtlingen, die in den USA Zuflucht suchen, über See zu verhindern. Täglich kreist ein amerikanisches Luftwaffenflugzeug über Haiti und strahlt einen kreolischsprachigen Appell von Haitis Botschafter in Washington aus, der die Haitianer dazu aufruft, nicht per Boot außer Landes zu fliehen.

Die Obama-Regierung gab bekannt, dass Haitianern ohne Papiere ein „zeitweiliger geschützter Status“ gewährt werde, der ihnen erlaube, in den USA zu bleiben und zu arbeiten – sollten sie in dieser Wirtschaft inmitten grassierender Arbeitslosigkeit und den Zwangsräumungen überhaupt Arbeit finden können. Aber vielen verletzten Haitianern wurde das Visum verweigert, das sie brauchen, um zur Operation und zur medizinischen Behandlung nach Miami verlegt werden zu können – Beamte der Einwanderungsbehörde in Florida nahmen sogar ein zwei Jahre altes haitianisches Kind fest, das medizinischer Behandlung bedurfte. Im US-Militärlager von Guantánamo, Kuba, sind immer noch fast 200 Gefangene des „Krieg gegen den Terror“ unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt. Obamas Frist für die Schließung des Gefängnisses lief letzte Woche unbemerkt ab. Die dortigen Militärbehörden beeilen sich, eine Einrichtung zur Aufnahme von 13 000 haitianischen Flüchtlingen bereitzustellen.

Mit seinen Vorkehrungen gegen haitianische Flüchtlinge, die in die USA zu gelangen versuchen, tritt Obama in die Fußstapfen von George W. Bush und früheren Präsidenten, zurück bis zu einem 1981 von Präsident Ronald Reagan und dem damaligen Marionettendiktator „Baby Doc“ Duvalier unterzeichneten Vertrag. Im September 1991 brachte ein Militärputsch die Präsidentschaft des populistischen Priesters Jean-Baptiste Aristide nach weniger als einem Jahr zu Fall und zwang viele seiner Unterstützer in brüchigen Booten aufs Meer. Die Regierung des ersten Bush fischte Tausende haitianischer Flüchtlinge aus ihren Booten und inhaftierte sie auf unbestimmte Zeit in Guantánamo ohne Anspruch auf Rechtsbeistand – eine Politik, die unter dem Demokraten Bill Clinton fortgeführt wurde. Wir fordern: Nieder mit der rassistischen Verbannung haitianischer Flüchtlinge! Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten! USA raus aus Guantánamo!

Nieder mit dem US-Imperialismus!

Liberale, die von der Politik der Obama-Regierung in Afghanistan und im Irak enttäuscht sind, haben das Erdbeben in Haiti als eine Gelegenheit für die USA aufgefasst, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Das fand Widerhall bei Obamas etwas enttäuschten reformistischen Förderern wie der ISO und der WWP. Die ISO fordert, dass „Obama die militärische Invasion Haitis sofort beenden“ soll, und ruft stattdessen die USA dazu auf, „das Land mit Ärzten, Krankenschwestern, Nahrungsmitteln, Wasser und Baumaschinen zu überfluten“ (Socialist Worker online, 19. Januar). Ähnlich fordert Workers World auf ihrer Website in einer Erklärung vom 14. Januar „den Abzug aller UN-Kampftruppen“ und ruft dazu auf, dass „alle Bonuszahlungen an Manager von Finanzeinrichtungen, die Rettungsgelder erhalten haben, Haiti gespendet werden sollen“.

Die Vorstellung, der US-Imperialismus könne dazu gedrängt werden, den Bedürfnissen der Unterdrückten zu dienen und nicht seinen eigenen Klasseninteressen, verrät grenzenlose Illusionen in die wohlwollenden Behörden der raubgierigen amerikanischen herrschenden Klasse. Reformisten wie die ISO und die WWP erhoben auf Demonstrationen gegen den US-Krieg im Irak immer wieder Forderungen nach einer Verschiebung der Prioritäten bei Staatsausgaben der US-Regierung, weg vom Krieg hin zu Sozialleistungen wie Bildung. Doch neokoloniale Vorherrschaft und Machterweiterung gehören zum Imperialismus, und kein noch so heftiges Druckausüben und Appellieren kann dies ändern.

Die brutale Behandlung, die asylsuchenden Haitianern in den USA routinemäßig zuteil wird – Internierung, Demütigung, Abschiebung – steht in scharfem Gegensatz dazu, wie die USA konterrevolutionäre Gusanos (Würmer) willkommen heißen, die sie zur „Flucht“ aus Kuba ermutigen. In Kuba stürzte eine soziale Revolution den Kapitalismus einer einst verarmten Neokolonie, und seitdem ist die herrschende Klasse der USA entschlossen, die Kubanische Revolution zu Fall zu bringen und in diesem Lande die kapitalistische Ausbeutung wiedereinzuführen. Wir treten für die bedingungslose militärische Verteidigung des kubanischen bürokratisch deformierten Arbeiterstaates gegen Imperialismus und die Kräfte der Konterrevolution im Inneren ein. Gleichzeitig kämpfen wir für eine proletarisch-politische Revolution, um die herrschende stalinistische Bürokratie zu stürzen und durch ein Regime auf der Grundlage von Arbeiterdemokratie und revolutionärem Internationalismus zu ersetzen.

Kuba hat Länder in ganz Lateinamerika und anderswo mit medizinischem Personal und medizinischer Ausbildung unterstützt, und kubanische Universitäten haben mehr als 500 haitianische Ärzte kostenlos ausgebildet. Schon vor dem Erdbeben arbeiteten etwa 350 medizinische Mitarbeiter in Haiti. Wenige Stunden nach der Katastrophe entsandte Kuba weitere 69 Ärzte des Internationalen Ärzte-Kontingents Henry Reeve, spezialisiert auf Katastrophensituationen und schwerwiegende Epidemien. Diese Brigade, die nach einem US-Bürger benannt ist, der Ende des 19. Jahrhunderts für die Unabhängigkeit Kubas von Spanien kämpfte, wurde 2005 von der kubanischen Regierung ins Leben gerufen, um Opfern des Hurrikans Katrina zu helfen (den kubanischen Ärzten wurde die Einreise in die USA verweigert).

Selbst das konservative Wall Street Journal (17. Januar) gab zu: „US-Beamte haben Sicherheitsbedenken für die schleppende Hilfe verantwortlich gemacht. Doch ein Team kubanischer Ärzte wurde am Montag dabei beobachtet, wie es Hunderte von Patienten behandelte, ohne dass irgendwelche Gewehre oder Soldaten in Sichtweite waren.“ Darüber hinaus hat Kuba den Flugzeugen des US-Militärs eine zeitweilige Erlaubnis zum Überfliegen seines Luftraums gegeben, um die Hilfeleistungen für Haiti zu beschleunigen, und das trotz wiederholter Versuche des US-Imperialismus, dort eine Konterrevolution anzuzetteln – darunter eine seit Jahrzehnten andauernde US-Hungerblockade.

Die Überlegenheit einer kollektivierten Wirtschaft über kapitalistische Anarchie zeigt sich nicht zuletzt darin, wie Kuba mit Naturkatastrophen umgeht. Kuba, das regelmäßig von Wirbelstürmen heimgesucht wird, ist bekannt für seine Effizienz bei der Evakuierung von Bürgern angesichts derartiger Katastrophen. Als das Erdbeben von Haiti begann, wurde Südost-Kuba für 90 Minuten in Tsunami-Alarmzustand versetzt. In diesem kurzen Zeitraum evakuierten die kubanischen Behörden etwa 30 000 Menschen aus Baracoa, dem Teil des Landes, der Haiti am nächsten liegt; sie konnten noch am selben Abend nach Hause zurückkehren.

Eine Geschichte neokolonialer Vergewaltigung und Plünderung

Seit 200 Jahren bezahlen die haitianischen Massen mit ihrem Blut für die Revolution, die sie unter der Führung von Toussaint L’Ouverture gegen die französische koloniale Sklavenhalterherrschaft unternommen hatten. Die unmittelbar von der Großen Französischen Revolution inspirierte Haitianische Revolution von 1791–1804, die in der Errichtung des ersten unabhängigen schwarzen Staates der Moderne gipfelte, war ein Leuchtfeuer, das Sklavenaufstände in ganz Amerika beflügelte. Sie wurde sowohl vom napoleonischen Frankreich als auch von den Sklavenhaltern der Vereinigten Staaten mit rasender rassistisch-konterrevolutionärer Feindschaft empfangen.

Haiti wurde dazu gezwungen, als Gegenleistung für die Anerkennung durch Frankreich die ehemaligen Sklavenhalter in Höhe von 150 Millionen Goldfrancs – nach heutigem Wert etwa 20 Milliarden US-Dollar – zu entschädigen. Die USA ihrerseits verweigerten Haiti bis 1862, nach dem Beginn des Bürgerkriegs gegen die Sklavenhalter des Südens, die diplomatische Anerkennung. Im gesamten 19. Jahrhundert bedienten sich die USA und die europäischen Mächte der Kanonenbootdiplomatie und drohten mit Militärintervention, um die Schuldenrückzahlung zu erpressen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mussten 80 Prozent von Haitis Staatsbudget dafür aufgewendet werden, um die ehemaligen Ausbeuter auszuzahlen, und das Land ist heute immer noch eine furchtbar arme Schuldnernation.

Das US-Militär marschierte 1888, 1891 und 1914 in Haiti ein. 1915 begannen die USA eine blutige Besetzung des Landes, die bis 1934 andauern sollte. Das US-Militärregime in Haiti war einem Historiker zufolge „wahrscheinlich das blutigste in der ganzen Karibik“ (Donald Schulz und Douglas Granham [Hrsg.], Revolution and Counterrevolution in Central America and the Caribbean [Revolution und Konterrevolution in Zentralamerika und der Karibik], 1984).

Die Besetzung und die anschließende Verhängung von Zwangsarbeit provozierten einen nationalen Aufstand der Cacos (Bauernguerilla), der 1916 begann und fünf Jahre andauerte, bis er in Blut ertränkt wurde. Mumia Abu-Jamal, Amerikas herausragendster Klassenkriegsgefangener, beschrieb das in einer Kolumne von 1994 („American Hatred of Haiti“ [Amerikanischer Hass auf Haiti], Workers Vanguard Nr. 609, 28. Oktober 1994):

„Als die Menschen im Cacos-Aufstand gegen diese erzwungene Sklaverei rebellierten, antworteten die US-Marines mit rücksichtsloser Repression, der schätzungsweise 15 000 Bauern zum Opfer fielen.

Ein US-Marineoffizier, Oberst Littleton W.T. Waller (Virginia), schrieb über seine Eindrücke von dem Volk, dem sie laut heutiger Geschichtsschreibung zu ,Hilfe‘ kamen; die Haitianer waren ,echte N----r und man täusche sich nicht – es gibt hier einige gutaussehende, wohlerzogene, kultivierte Männer, doch unter der Oberfläche sind es echte N----r‘. Ein Paradebeispiel exportierter amerikanischer ,Demokratie‘ “.

Seitdem haben die USA einen haitianischen Despoten nach dem anderen unterstützt, von denen jeder das Land weiter schröpfte, welche Ressourcen auch immer noch übrig waren. Einer dieser brutalen Diktatoren war der berüchtigte „Papa Doc“ Duvalier, der die Schlägerbanden der Tonton Macoutes organisierte und 50 000 politische Gegner tötete. Sein irrer Sohn „Baby Doc“ musste 1986 während einer Massenerhebung nach Frankreich fliehen. Nach Schätzungen eines Gutachtens soll „Baby Doc“ für jedes Jahr, das er an der Macht war, den Gegenwert von 4,5 Prozent des haitianischen Bruttoinlandsproduktes gestohlen haben. Wie Graham Greene in seinem Roman Die Stunde der Komödianten schreibt, waren die USA für die Errichtung der „Alptraumrepublik“ verantwortlich. Amerikaner können den Roman lesen; Haitianer mussten ihn leben.

Die massive Unzufriedenheit, die „Baby Doc“ Duvalier von der Macht vertrieb, führte schließlich im Dezember 1990 zur Wahl des radikalen katholischen Priesters Jean-Bertrand Aristide. Buchstäblich die gesamte internationale Linke gab ihm politische Unterstützung. Die WWP jubelte Aristide zu, weil er angeblich versprochen habe, Dinge wie „wirtschaftliche Gerechtigkeit“, „ehrliche“ Regierungsführung und „breite Beteiligung des Volkes“ einzuführen (Workers World, 27. Dezember 1990). In ihrem Artikel zitierte die WWP aus einer Solidaritätsadresse, die sie an Aristide geschickt hatte und in der sie seinen „großartigen Mut bei der Einbringung der Flut des Massenkampfes in die Wahlkampagne“ pries. Ähnlich feierte die ISO Aristides Wahl und behauptete, er sei sich dessen „vollkommen bewusst, dass zum Überleben der Demokratie in Haiti das gesamte System umstrukturiert werden muss“ (Socialist Worker, November 1991).

Dagegen warnten wir: „Aristide wird entweder die Rolle des unterwürfigen Werkzeugs der haitianischen Bourgeoisie und der US-imperialistischen Oberherrscher spielen oder er wird in einem reaktionären Handstreich mit dem Ziel der endgültigen Disziplinierung der gnadenlos unterdrückten Bevölkerung hinweggefegt werden“ („Haiti: Election Avalanche for Radical Priest“ [Haiti: Erdrutschwahlsieg für radikalen Priester], WV Nr. 517, 4. Januar 1991). Es bewahrheitete sich beides.

Anfangs verärgerte Aristide die US-Herrscher, indem er sich ihren Wirtschaftsdiktaten widersetzte und diplomatische Beziehungen zu Kuba aufnahm. Dies war eines der wenigen Verdienste des Aristide-Regimes, da es bedeutete, dass kubanische Ärzte und Krankenschwestern in Haiti ihre Arbeit aufnahmen. Aristide wurde 1991 gestürzt. 1994 setzte Präsident Clinton nach einer Hungerblockade gegen Haiti Aristide mit blanker Waffe wieder ein, wobei Marines das Land durch eine Militärintervention namens „Operation Uphold Democracy“ besetzten. Aristide unterstützte sowohl das Embargo als auch die Invasion. Er bewies seinen US-Aufsehern seine Verlässlichkeit, indem er noch vor seiner Rückkehr an die Macht 1994 einem drastischen Kahlschlagprogramm, der Privatisierung staatseigener Industrien, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und der faktischen Abschaffung von Einfuhrzöllen zustimmte. Letzteres führte den Zusammenbruch der einheimischen Wirtschaft herbei, da der Markt zum Beispiel mit amerikanischem Reis überflutet wurde, der billiger war als das in Haiti angebaute Produkt. Nachdem Aristide die Armee (ein Widerstandszentrum gegen sein Regime) 1995 aufgelöst hatte, stützte er seine Herrschaft auf einen brutalen Polizeiapparat und auf Bandenterror.

2004 wurde Haiti wieder von bewaffneten Revolten (einige von Washingtoner Neokonservativen unterstützt) heimgesucht. Bush schickte US-Marines zum Einmarsch nach Haiti, und dabei schaffte eine US-Eskorte Präsident Aristide außer Landes und ins Exil nach Afrika. Vor allem die Demokraten des Congressional Black Caucus [Vereinigung schwarzer Abgeordneter im Kongress] hatten sich damit hervorgetan, den zögernden Bush zum Einsatz der Marines zu drängen, wenn auch angeblich zur Verteidigung von Aristide. Die US-Invasionen von 1994 und 2004, die beide mit Rückendeckung der UN ausgeführt wurden, waren größtenteils durch die Entschlossenheit der US-Herrscher motiviert, Haitianer daran zu hindern, die amerikanische Küste zu erreichen. Wir betonten damals, dass die US-Besetzung Haitis auch für den kubanischen deformierten Arbeiterstaat sowie für das militante Proletariat der Dominikanischen Republik, die sich die Insel Hispaniola mit Haiti teilt, eine Gefahr darstellt (siehe „Haiti: U.S./UN Troops Out!“ [Haiti: US-/UN-Truppen raus!], WV Nr. 821, 5. März 2004).

Im Anschluss an die Invasion von 2004 wurde eine Besatzungsstreitmacht unter UN-Schirmherrschaft gebildet, was den Aufbau einer verstärkten haitianischen Polizeitruppe aus sadistischen Vergewaltigern und Killern mit sich brachte. Die UN ist seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg immer ein Feigenblatt für nackte imperialistische Aggression gegen halbkoloniale Länder gewesen. Während der gegenwärtigen Erdbebenkatastrophe haben die von den USA bewaffneten Schlägertypen der haitianischen Polizei kaltblütig „Plünderer“ niedergeschossen, darunter ein 15-jähriges Mädchen, das in den Kopf geschossen wurde, als es ein paar Wandbehänge von den Ruinen forttrug.

Das imperialistische System, das seine kolonialen und halbkolonialen Untertanen erdrückender Armut und Erniedrigung unterwirft, muss durch internationale proletarische Revolution hinweggefegt werden. Haitianische Arbeiter in den USA, Kanada und anderswo werden das lebendige Bindeglied sein zwischen dem Kampf für nationale und soziale Emanzipation in Haiti und dem Kampf für sozialistische Revolution in den imperialistischen Zentren Nordamerikas, die Haiti zu einer neokolonialen Hölle gemacht haben.

Für revolutionären Internationalismus

In einem Artikel vom 20. Januar, den die zentristische Internationalist Group (IG) auf ihrer Website veröffentlicht hat, führte sie an, dass das Erdbeben die Möglichkeit für eine sozialistische Revolution in Haiti eröffnet. Die IG schrieb, dass sich Haitis „kleines, aber militantes Proletariat an die Spitze der verarmten städtischen und ländlichen Massen setzen kann, die versuchen, ihre eigene Macht zu organisieren, insbesondere jetzt, wo die kapitalistische Staatsmaschinerie bis auf ein paar marodierende Banden von Polizisten größtenteils in Trümmern liegt“.

Die nackte Wirklichkeit, die die IG gerne leugnen würde, ist, dass a) schon vor dem Erdbeben in Haiti so gut wie keine Arbeiterklasse existierte; b) nach dem Erdbeben nicht nur der Staat „größtenteils in Trümmern liegt“, sondern auch die Gesellschaft insgesamt, einschließlich der verzweifelten und ihrer Habseligkeiten beraubten Bevölkerung; und c) es in Haiti eine Militärmacht gibt, die bei weitem nicht „in Trümmern liegt“, und das ist der US-Imperialismus.

Die IG fordert, dass „alle US/UN-Truppen das Land verlassen“, und stellt die derzeitige US-Militärpräsenz in Haiti so dar, als hätte sie den Zweck, einen Volksaufstand zu unterdrücken: „Diese gewaltige militärische Besetzung ist nicht dazu da, Hilfe zu bringen, sondern Unruhen unter den Armen und Werktätigen Haitis im Keim zu ersticken“ (Hervorhebung im Original). Nach der Logik der IG muss man die kubanische Regierung dafür verurteilen, dass sie nach dem Erdbeben ihren Luftraum für amerikanische Militärflugzeuge geöffnet hat. Die IG spielt auf zynische Weise mit Phrasen und setzt sich ungeniert darüber hinweg, dass ihre Politik in der realen Welt, sollte sie durchgeführt werden, zu einem Massensterben durch Verhungern führen würde.

Ungeachtet der hirnverbrannten und grotesken Phantasien der IG gibt es für Haiti heute keine guten Alternativen. Das US-Militär ist die einzige Kraft vor Ort, die fähig ist – z. B. durch LKWs, Flugzeuge, Schiffe – den Transport dessen, was die haitianische Bevölkerung an Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischen und anderen Hilfsgütern erreicht, zu organisieren. Und es tut dies auf die typische widerliche US-imperialistische Art und Weise. Wir sind von jeher gegen jede US- und UN-Besetzung in Haiti und anderswo eingetreten – und möglicherweise wird es in naher Zukunft nötig sein, einen Abzug der USA/UNO aus Haiti zu fordern – aber wir werden nicht die Beendigung von Hilfe fordern, die die haitianischen Massen kriegen können. Wie der bolschewistische Führer Leo Trotzki in seinem Artikel von 1938 „Lernt denken – Ein freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke“ erklärte:

„Eine unversöhnliche Haltung gegenüber dem bürgerlichen Militarismus bedeutet keineswegs, dass das Proletariat in allen Fällen einen Kampf gegen seine eigene ,nationale‘ Armee führt. Zumindest würden sich die Arbeiter nicht den Soldaten in den Weg stellen, die ein Feuer löschen oder während einer Flut Ertrinkende retten; im Gegenteil, sie würden sich an der Seite der Soldaten daran beteiligen und sich mit ihnen verbrüdern…

In neunzig von hundert Fällen setzen die Arbeiter tatsächlich ein Minuszeichen, wo die Bourgeoisie ein Pluszeichen setzt. In zehn Fällen hingegen sind sie gezwungen, dasselbe Zeichen zu setzen wie die Bourgeoisie, es jedoch mit ihrem eigenen Siegel des Misstrauens gegen die Bourgeoisie zu versehen. Die Politik des Proletariats leitet sich durchaus nicht automatisch aus der Politik der Bourgeoisie ab, indem sie deren Vorzeichen umkehrt (dann wäre jeder Sektierer ein Meisterstratege). Nein, die revolutionäre Partei muss sich in jedem Falle, in der inneren wie in der äußeren Lage, unabhängig orientieren und die Entscheidungen treffen, die den Interessen des Proletariats am besten entsprechen.“

Dass die IG heute in Haiti eine proletarische revolutionäre Opposition hervorzaubert, folgt aus der hirnverbrannten Logik ihrer Verherrlichung des Dritte-Welt-Nationalismus. In der Praxis leugnen sie die fürchterlichen Auswirkungen, die nahezu zwei Jahrhunderte der Ausplünderung durch die USA und andere kapitalistische Mächte auf Haiti gehabt haben. Die bittere Wahrheit ist, dass die verzweifelten Verhältnisse in Haiti heute nicht innerhalb Haitis gelöst werden können. Der Schlüssel zur Befreiung Haitis liegt in einer proletarischen Revolution in der gesamten Hemisphäre, bei der die Mobilisierung des beträchtlichen haitianischen Proletariats in der Diaspora eine Schlüsselrolle spielen kann. Außer den brutal unterdrückten haitianischen Arbeitern der Zuckerrohrplantagen in der Dominikanischen Republik und denen, die anderswo in der Karibik arbeiten, leben nunmehr hunderttausende haitianische Arbeiter in Städten von Montreal bis Miami. Diese Arbeiter können ein lebendiges Bindeglied zum Klassenkampf des mächtigen nordamerikanischen Proletariats sein.

Der Artikel der IG erwähnt nicht einmal die hunderttausenden haitianischen Arbeiter in den städtischen Zentren Nordamerikas. Dagegen trifft zu, was ein Spartacist-Sprecher bei einer öffentlichen Diskussion im Oktober 1991 in New York City erklärte:

„Haitianische Nationalisten beklagen immer die Tatsache, dass es eine haitianische Diaspora gibt. Genossen, es ist sehr gut, dass ihr eine Diaspora habt! Sie internationalisiert den Kampf der haitianischen Arbeiter, gibt ihnen soziale Macht und trägt dazu bei, eine internationale Avantgarde mit direkter Verbindung zum US-Proletariat zu schmieden, das die Macht besitzt, den Imperialismus in die Knie zu zwingen…

Haitianische Arbeiter in der ganzen Diaspora sind heute ein lebendiges Bindeglied zwischen dem revolutionären Klassenkampf in Haiti und der gesamten Karibik und dem nordamerikanischen Kontinent. Die Organisierung der bewusstesten Elemente in einer internationalistischen bolschewistischen Partei, einer trotzkistischen Partei, ist die Aufgabe, die sich die Internationale Kommunistische Liga im Kampf für eine weltweite sozialistische Revolution stellt.“ („Haitian Workers: Fight for Power!“ [Haitianische Arbeiter: Kämpft um die Macht!], WV Nr. 537, 27. Oktober 1991)

Nur dieses revolutionär-internationalistische Programm bietet für die Befreiung der haitianischen Massen eine echte Perspektive.