Spartakist Nr. 210 |
Oktober 2015 |
Über ISIS und den Imperialismus
Folgender Briefwechsel erschien in Workers Vanguard Nr. 1073, 4. September. Auch hierzulande haben wir oft heiße Debatten über unsere Position der militärischen Verteidigung des reaktionären IS (Islamischer Staat) gegen den Imperialismus. Insbesondere die MLPD argumentiert ähnlich wie der Leserbriefschreiber, der IS sei faschistisch und daher qualitativ reaktionärer als der „demokratische“ Imperialismus. Andere linke Organisationen halten den IS zwar nicht für „faschistisch“, sind aber auch der Meinung, dass die kurdischen Gruppen vor Ort auf jeden Fall fortschrittlich seien, obwohl diese vom Imperialismus ausgenutzt werden und ihm als Bodentruppen dienen. Gruppen wie die GAM und NaO organisierten daher Spendensammlungen mit der Kampagne „Solidarität mit Rojava – Waffen für YPG/YPJ“ (siehe auch Spartakist Nr. 206, Januar 2015).
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Wheatland, Iowa
29. Mai 2015
Genossen,
ich bin besorgt darüber, in welche Richtung das geht, was die SL und IKL-VI [Spartacist League/U.S. und Internationale Kommunistische Liga-Vierte Internationalisten] über den Mittleren Osten, insbesondere über ISIS (oder ISIL oder IS/Islamischer Staat) schreiben. Die SL hatte anfangs die Position der militärischen, aber nicht politischen Unterstützung aller Kräfte, die sich gegen den US-Imperialismus stellen. Daraus scheint sich die Position entwickelt zu haben, dass ISIS das geringere von zwei Übeln ist, bei gleichzeitiger ausgiebiger Distanzierung und Verurteilung von so ziemlich allem, was ISIS tut. Ich denke, ihr stellt in dieser Situation die falsche Frage und kommt zu einer sehr schlechten Antwort.
Was ist oder sollte die marxistische, leninistische Herangehensweise sein? Im ersten großen interimperialistischen Krieg, dem Ersten Weltkrieg, propagierten die linken Sozialisten, darunter Lenin, revolutionären Defätismus. In Russland, wo die Politik erfolgreich war, stellten Lenin und die Bolschewiki vor, während und nach der Revolution vollkommen klar, dass sie keine Agenten von Deutschland, Russlands Hauptfeind, waren und auch nicht auf einen deutschen Sieg hinarbeiteten. Tatsächlich mussten sie nach der Revolution gegen Deutschland sowie die anderen imperialistischen Mächte kämpfen. Ebenso war im Zweiten Weltkrieg die SWP [die damals trotzkistische Socialist Workers Party in den USA] gegen den imperialistischen Krieg, aber sie waren nie Agenten der Nazis. Der zentrale Punkt ist, dass Opposition gegen den Krieg imperialistischer Mächte nicht zwangsläufig Unterstützung für deren Gegner bedeutet. Das sind zwei getrennte Fragen.
Ich würde behaupten, ISIS ist eine faschistische Organisation mit den Besonderheiten, die von ihrer Ideologie des fundamentalistischen Islam herrühren. Sie sind der Feind aller sozialistischen Bewegungen. Es ist unerheblich, ob man sie als Hauptfeind oder irgendwie zweit- oder drittrangigen Feind ansieht, sie sind der Feind. Marxisten unterstützen Faschisten überhaupt nicht.
Das letzte Mal, als sich eine Situation ergab, die mit dieser viele Gemeinsamkeiten hat, hatte die SL eine andere, weit bessere Herangehensweise. Als im Iran der Schah, ein Klient der westlichen Imperialisten, durch Chomeinis „Islamische Revolution“ gestürzt wurde, propagierte die SL die Losung „Nieder mit dem Schah, nieder mit den Mullahs, Arbeiter an die Macht“ (oder etwas inhaltlich grundlegend Ähnliches, ich habe es gerade nicht parat). Anders gesagt: Opposition sowohl gegen die Imperialisten als auch gegen die islamischen Faschisten.
Die Kurden. Im Moment ist es die De-Facto-Politik der SL gegenüber den Kurden, am Rande zu stehen und zu applaudieren, während die islamischen Faschisten sie töten. Dies soll angeblich das revolutionäre Potenzial in den USA erhöhen. In Wirklichkeit scheint es die Preisgabe jeglicher revolutionären Perspektive für die Region und kleinbürgerliche Rachsucht gegenüber einem Volk zu sein, dessen gegenwärtige Führung ein Klient des US-Imperialismus ist. Bei seinem Aufstieg führte ISIS blutige Angriffe auf schiitische und kurdische Gebiete durch. Die Kurden hielten stand durch Selbstverteidigung. Die Kurden kämpften gut, hatten aber keine schweren Waffen, und ihnen drohte Tod oder Vertreibung aus dem Land. Die USA hatten ihre eigenen Gründe, als sie den Kurden Waffen und taktische Luftunterstützung anboten. Die Kurden hatten wirklich keine andere Wahl, als dies anzunehmen. Revolutionäre sollten die Verteidigung der Kurden unterstützen, aber ihren Einsatz in anderen Teilen des Irak zur Unterstützung imperialistischer Ziele ablehnen. Es müsste eine revolutionäre kurdische Partei aufgebaut werden, die sich den Pro-Imperialisten entgegenstellt. Das wird man niemals mit einem Programm erreichen, islamischen Faschisten zuzujubeln, während diese die Kurden in Syrien und im Irak töten, vergewaltigen und enteignen.
Denkt daran: In solchen Situationen ist der Feind meines Feindes auch mein Feind.
Für eine revolutionäre Partei,
Loren S.
Workers Vanguard antwortet:
Die Quintessenz des Briefes von Loren S. ist, dass ISIS so abscheulich, so böse, „faschistisch“, wie er es nennt, ist, dass ihm der „demokratische“ US-Imperialismus vorzuziehen ist. In Wirklichkeit verblassen die vielen grausamen Verbrechen von ISIS im Vergleich zu denen der USA und anderer Imperialisten, sei es an Anzahl, Umfang oder Wirkung. Die Blutspur, die sich heute überall durch den Nahen Osten zieht, ist die Hinterlassenschaft eines Jahrhunderts, in dem das imperialistische System „Teile-und-Herrsche“-Politik betrieb, Krieg führte und die wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zurückgehalten hat. ISIS selbst ging aus der Verwüstung hervor, die auf die Invasion des Irak 2003 folgte, wie auch aus der Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten für die reaktionären Kräfte, die das brutale bürgerliche Regime Baschar al-Assads in Syrien bekämpfen.
Wir haben militärisch eine Seite mit ISIS, wenn er seine Angriffe gegen die Imperialisten und die Kräfte richtet, die als deren Erfüllungsgehilfen fungieren: dazu gehören die Regierung in Bagdad, die schiitischen Milizen, die kurdischen Peschmerga im Nordirak und die syrischen kurdischen Nationalisten. Gleichzeitig sind wir entschiedene politische Gegner von ISIS, dessen blutrünstige Methoden und rückschrittliche Ansichten wirklich widerlich sind.
Für Marxisten ist ausschlaggebend, dass ein Rückschlag für die USA und ihre Handlanger die Pläne der Imperialisten für die Region behindern würde. Dies kann dem Proletariat und den Unterdrückten des Nahen Ostens nur nützen, auch den kurdischen Massen. Ein solcher Rückschlag könnte auch die Opposition zum US-Imperialismus im eigenen Lande fördern bei einer kriegsmüden Bevölkerung, die zermürbt ist durch eine jahrelange Wirtschaftskrise und einen „Aufschwung“, von dem die Arbeiter nichts spüren. Wir Marxisten wollen die Enttäuschung und die Wut der arbeitenden Menschen in den USA in einen Klassenkampf gegen die kapitalistischen Herrscher im eigenen Lande verwandeln. Durch solche Kämpfe wird das Proletariat für das Programm der sozialistischen Revolution zur Zerschlagung des imperialistischen Monsters von innen her gewonnen.
Eine solche Perspektive beginnt bei dem Verständnis, dass die US-Imperialisten der Hauptfeind der Werktätigen auf der ganzen Welt sind. Genau das lehnt Loren ab. Um sein Argument zu untermauern, führt er eine Reihe von Beispielen an, die mit der vorliegenden Frage nichts zu tun haben. Im Fall des Iran 1978/79 kämpften konkurrierende bürgerliche Kräfte – der Schah und die Islamisten – um die Kontrolle des Landes inmitten einer Situation, in der die Frage des Kampfes des Proletariats um die Macht auf der Tagesordnung stand. Es war kein Fall, wo die Imperialisten gegen eine der beiden Seiten Krieg führten. Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren interimperialistische Kriege zur Neuaufteilung der Welt unter die „Großmächte“. In solchen Kriegen vertreten Marxisten eine revolutionär-defätistische Linie gegenüber allen Kriegsparteien (außer der UdSSR im Zweiten Weltkrieg, die Marxisten bedingungslos militärisch verteidigten).
Und dann ist da die Ente von den „islamischen Faschisten“. Loren bezeichnet ISIS (ebenso wie auch die Mullahs im Iran und wahrscheinlich auch andere islamistische Kräfte) als „Faschisten“ und schreibt: „Sie sind der Feind aller sozialistischen Bewegungen.“ Das sind die bürgerlichen Nationalisten und vor allem die Imperialisten auch. Doch für sie benutzt Loren diese Bezeichnung nicht. ISIS und andere Islamisten sind nicht faschistischer als jene Vielzahl von reaktionären und mörderischen Kräften, die über den größten Teil dieses Planeten herrschen. In Wirklichkeit wurde die Bezeichnung „islamische Faschisten“ im Rahmen der ideologischen Kampagne zur Rechtfertigung des „Kriegs gegen den Terror“ geprägt. Sie soll das Gewissen von Liberalen beruhigen, die ihren Frieden mit dem US-Imperialismus machen, und der bürgerlich-demokratischen Fassade der Imperialisten Glaubwürdigkeit verleihen. Loren wirft mit dem Begriff um sich wie eine Art Schimpfwort und zeigt so nur, wie sehr er selbst den demokratischen Anspruch des US-Imperialismus aufgesogen hat.
Aber selbst wenn ISIS eine faschistische Kraft darstellen würde, würde dies unsere prinzipielle Position der militärischen Verteidigung gegen den Imperialismus nicht ändern. Als 1938 der Zweite Weltkrieg seine Schatten vorauswarf, schrieb Trotzki über einen hypothetischen Angriff des „demokratischen“ britischen Imperialismus gegen Brasilien, das damals von dem faschistoiden Vargas-Regime regiert wurde:
„In diesem Fall werde ich auf der Seite des ,faschistischen‘ Brasilien gegen das ,demokratische‘ Großbritannien stehen. Warum? Weil es in dem Konflikt zwischen ihnen nicht um die Frage Demokratie oder Faschismus gehen wird. Wenn England siegreich sein sollte, wird es in Rio de Janeiro einen anderen Faschisten einsetzen und Brasilien doppelte Ketten auferlegen. Wenn im Gegensatz dazu Brasilien siegreich sein sollte, wird dies dem nationalen und demokratischen Bewusstsein des Landes großen Auftrieb geben und zum Sturz der Diktatur Vargas führen. Die Niederlage Englands wird zur gleichen Zeit dem britischen Imperialismus einen Schlag versetzen und der revolutionären Bewegung des britischen Proletariats einen Impuls geben. Man muss wahrlich ein Hohlschädel sein, um die Gegensätze in der Welt und die militärischen Konflikte auf den Kampf zwischen Faschismus und Demokratie zu reduzieren.“ („Anti-Imperialist Struggle Is Key to Liberation“ [Anti-imperialistischer Kampf ist der Schlüssel zur Befreiung], 23. September 1938)
Es ist bezeichnend, dass Loren als Argument gegen unsere Position nur die Kurden anführt; er hat zum Beispiel nichts gegen unsere Linie, wo sie die schiitischen Milizen betrifft. Implizit bedeutet das, dass die kurdischen Kräfte irgendwie von Haus aus fortschrittlich seien. In Wirklichkeit wurden bei den Kämpfen im Irak und in Syrien auf allen Seiten kommunalistische Massaker begangen; wir ergriffen anfangs für keine Seite Partei, bis dann der US-Imperialismus direkt intervenierte. ISIS zelebriert zwar seine Barbarei und Brutalität, hat aber unter den konkurrierenden Kräften in der Region kein Monopol auf derartige Eigenschaften. Einer der Gründe, weshalb ISIS unter den sunnitischen Arabern Unterstützung finden konnte, ist, dass diese von Seiten schiitischer und kurdischer Milizen mörderische kommunalistische Gewalt erlebt haben – wie etwa von den Peschmerga-Kräften, die sich 2004 an dem von den USA geführten Angriff auf die irakische Stadt Falludscha beteiligten. In letzter Zeit gab es Berichte, dass die mit den USA verbündeten Kurdischen Volksschutzkomitees (YPG) arabische Einwohner aus Nordsyrien vertrieben haben.
Loren schreibt: „Die De-Facto-Politik der SL gegenüber den Kurden ist es, am Rande zu stehen und zu applaudieren, während die islamischen Faschisten sie töten.“ Nein. Wir haben niemals einer Gemeinschaft das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen. Aber wir sind dagegen, dass die kurdischen Nationalisten als Handlanger des Imperialismus fungieren. Loren bestreitet nicht, dass sie diese Rolle spielen; er entschuldigt es bloß mit dem Argument, dass sie „keine andere Wahl hatten“. In Wirklichkeit ordnen die kurdischen Nationalisten den gerechten Kampf für kurdische nationale Rechte ihrer Rolle als imperialistische Erfüllungsgehilfen unter, ein Verbrechen, wofür das seit langem unterdrückte kurdische Volk den Preis zahlen wird.
In „Down With U.S. War Against ISIS!“ [Nieder mit dem US-Krieg gegen ISIS!] (WV Nr. 1055, 31. Oktober 2014) warnten wir: „Kurdische Führer verkaufen sich an die Imperialisten und an verschiedene bürgerliche Regime der Region und tragen so dazu bei, dass die Tricks der Teile-und-herrsche-Politik, die unausweichlich kommunale nationale und religiöse Spannungen entfachen und der verschärften Unterdrückung der kurdischen Massen dienen, ewig weitergehen.“
Wie schon so oft in der Vergangenheit haben sich die angeblichen Wohltäter der Kurden jetzt gegen sie gewandt. Letzten Monat gaben die USA als Gegenleistung dafür, dass sie den Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei als Operationsbasis gegen ISIS benutzen können, dem Regime in Ankara grünes Licht für Luftangriffe im Nordirak gegen die Verbündeten der YPG, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK, die sowohl von den USA als auch von der Türkei [und auch vom deutschen Imperialismus] als „terroristisch“ bezeichnet wird). Diese Luftangriffe werden noch dadurch erleichtert, dass die USA seit 2007 der Türkei Geheimdienstinformationen über PKK-Stützpunkte im Irak liefern. Die türkische Regierung geht auch hart gegen die Opposition im eigenen Land vor und inhaftierte hunderte kurdischer Aktivisten und andere.
Die Vielzahl von Völkern im Nahen Osten wird erst dann Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit erleben, wenn die bürgerliche Herrschaft in der Region durch eine Reihe sozialistischer Revolutionen gestürzt worden ist. Eine solche Perspektive verlangt vor allen Dingen unversöhnliche Opposition gegen den Imperialismus.