Spartakist Nr. 214

Herbst 2016

 

Für ein vereinigtes unabhängiges Kurdistan!

Türkei: Erdogans Gegenputsch

Nieder mit dem Ausnahmezustand!

Kaum einen Monat nachdem der autokratische Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan den stümperhaften Putsch vom 15. Juli siegreich überstanden hatte, befahl er seinem Militär, in Syrien einzumarschieren. Am 24. August rückte nach zweitägigem Artilleriebeschuss ein kleines Truppen- und Panzerkontingent auf die syrische Grenzstadt Dscharabulus vor als Hilfestellung für die von der Türkei unterstützte „Freie Syrische Armee“. Die Stadt befand sich in der Hand des Islamischen Staates (IS), wurde von ihm aber angesichts des von der Türkei geführten Angriffs aufgegeben.

Die Operation „Schutzschild Euphrat“ richtet sich angeblich gegen den IS, und die USA unterstützten den türkischen Einmarsch mit Luftangriffen. Ihr Hauptzweck ist es jedoch, mit den USA verbündete kurdische Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG), des militärischen Flügels der Partei der Demokratischen Union (PYD), aus dem Gebiet zu vertreiben. Nach dem Einmarsch in Syrien führte die Türkei mehrere Luft- und Artillerieangriffe gegen PYD/YPG-Stellungen durch. Die PYD/YPG ist der syrische Ableger der in der Türkei beheimateten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Seit dem vergangenen Jahr führen türkische Streitkräfte eine mörderische Offensive gegen die PKK in der Türkei durch, wo Unterdrückung der Kurden eine Hauptstütze von türkischem Nationalismus und kapitalistischer Herrschaft ist.

Inmitten des allseitigen Chaos und Blutvergießens des syrischen Bürgerkriegs ist es der PYD/YPG gelungen, faktisch zwei nicht zusammenhängende halbautonome Regionen im Nordosten und Nordwesten Syriens unter ihren Einfluss zu bringen. In den letzten Monaten hat die YPG versucht, diese beiden Regionen miteinander zu verbinden, auch durch Vertreibung von Arabern und Turkmenen. Die Türkei lehnt jegliches Anzeichen von Unabhängigkeit in Rojava ab, was der kurdische Name für Syrisch-Kurdistan ist, und ist zwischen diese beiden kurdischen Enklaven vorgedrungen, um zu verhindern, dass daraus ein zusammenhängendes Gebiet wird.

Die USA ihrerseits sind sich mit der Türkei darüber einig, dass die von den Kurden kontrollierten Gebiete getrennt bleiben sollen, auch wenn sie weiterhin die PYD/YPG unterstützen, welche die verlässlichsten Verbündeten des US-Imperialismus in dessen Krieg gegen den IS sind. Als Vizepräsident Joe Biden am 24. August in Ankara war, forderte er die YPG unmissverständlich dazu auf, sich auf das Gebiet östlich des Euphrats zurückzuziehen, und drohte sogar damit, US-Militärhilfe zu verweigern, wenn sie das nicht machen würden. Diese Drohung unterstreicht, was schon immer US-Politik war: Ablehnung kurdischer Unabhängigkeit.

Bidens Besuch sollte der Wiederherstellung der Beziehungen zwischen den USA und der Türkei dienen, die schon vor dem Putsch angespannt waren und sich danach noch weiter verschlechtert haben. Eine große Rolle für diese Verschlechterung spielte dabei das gegen den IS gerichtete Bündnis zwischen den USA und der PYD/YPG. Washington hat die Zusammenstöße zwischen der Türkei und den kurdischen Nationalisten als „inakzeptabel“ bezeichnet. Zu der türkischen Bombardierung von YPG-Truppen betonte ein hochrangiger Beamter der USA, dass die USA „an diesen Aktivitäten nicht beteiligt waren, diese nicht mit US-Streitkräften abgestimmt waren und wir sie nicht unterstützen“. Die USA machen weiter mit ihrem Balanceakt, sich einen Verbündeten und einen Erfüllungsgehilfen – die Türkei und die PYD/YPG – zu halten, die Todfeinde sind, was für zunehmende Spannungen mit Ankara sorgt.

Die Türkei ist NATO-Mitglied und historisch ein Verbündeter der USA, der während des Kalten Krieges als wichtige Operationsbasis gegen die Sowjetunion diente. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991/92 setzen die USA auf die Türkei, die oft als „stabiles“ und „gemäßigtes“ sunnitisch-muslimisches Regime gepriesen wird, als Gendarm vor Ort. Gleichzeitig ist die Türkei eine Regionalmacht mit eigenen Interessen, die nicht immer mit denen von Washington übereinstimmen.

Ankara sähe den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad von der alawitischen Minderheit gerne durch ein sunnitisch-basiertes Regime ersetzt, das als Brückenkopf zur Ausweitung türkischer Macht in der Region dienen würde. Nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs öffnete die Türkei, obwohl sie sich als Gegner des IS bezeichnete, ihre Grenzen für den Zustrom von Dschihadisten nach Syrien und stellte ihnen Finanzmittel und militärische Ausrüstung zur Verfügung. Doch im Juli 2015 erlaubte die Türkei den USA, ihren Luftwaffenstützpunkt Incirlik für Operationen gegen den IS zu benutzen, wofür die USA im Gegenzug dem Regime in Ankara grünes Licht für Luftangriffe gegen die PKK im Nordirak gaben. Seitdem hat der IS für eine Reihe von Selbstmordanschlägen in der Türkei die Verantwortung übernommen. Während die USA und Russland über den syrischen Bürgerkrieg verhandeln, will das Erdogan-Regime auf das Ergebnis Einfluss nehmen, auch indem es in Syrien militärisch mitmischt.

Vor dem Putschversuch hatte Erdogan Schritte unternommen, seine Position in der Region zu festigen, vor allem durch die Einleitung einer Wiederannäherung an Russland. Die türkisch-russischen Beziehungen hatten ernsthaften Schaden genommen, nachdem die Türkei Ende letzten Jahres ein russisches Kampfflugzeug über Nordsyrien abgeschossen hatte. Bemerkenswerterweise war Moskau die erste Hauptstadt, die Erdogan nach dem Putsch besuchte, wo er Berichten zufolge vom russischen Präsidenten Wladimir Putin die Zusicherung erhielt, dass Russland im Falle eines Eingreifens türkischer Streitkräfte in Syrien nicht auf sie schießen würde. Während die Türkei und Russland in Syrien unterschiedliche Interessen verfolgen, wobei Russland das Assad-Regime militärisch unterstützt, sind sie sich untereinander und mit den USA darüber einig, die „territoriale Integrität“ Syriens aufrechtzuerhalten – d. h. kein unabhängiges Rojava.

Der syrische Bürgerkrieg ist reaktionär und kommunalistisch auf allen Seiten, und als Marxisten haben wir dabei keine Seite, auch nicht bei den Scharmützeln zwischen Washingtons türkischen Verbündeten und Washingtons kurdischen Handlangern. Eine Seite haben wir allerdings gegen die USA und die anderen imperialistischen Mächte. Daher sind wir, obwohl wir alles verabscheuen und ablehnen, was die IS-Mörderbanden verkörpern, für die militärische Verteidigung des IS gegen die USA und ihre Handlanger, zu denen auch die YPG gehört.

Jeder Schlag gegen den US-Imperialismus liegt im Interesse der arbeitenden und unterdrückten Massen der Welt. Während sich unsere Hauptgegnerschaft gegen die Imperialisten richtet, wenden wir uns aber auch gegen die anderen in Syrien beteiligten kapitalistischen Mächte wie die Türkei, Russland und den Iran und fordern deren Abzug.

Erdogan schlägt zurück

Gegenüber der eigenen Bevölkerung bezeichnete Erdogan den gescheiterten Putsch treffend als „Geschenk Gottes“ und benutzte ihn, um seine Macht weiter zu festigen. Die von ihm in Gang gesetzte Repressionswelle richtet sich nicht nur gegen diejenigen, die laut Regierung hinter dem Putsch standen – nämlich Erdogans ehemaligen islamistischen Verbündeten Fethullah Gülen und seine Anhänger –, sondern soll auch alle Kritiker zum Schweigen bringen. Die Zahl der Verhaftungen ist so groß, dass die Regierung fast 34 000 zu geringeren Strafen Verurteilte freigelassen hat, um in den Gefängnissen Platz zu schaffen für die infolge des gescheiterten Putsches Verhafteten. Wie wir in „Gescheiterter Putsch in der Türkei: beide Seiten schlecht für die Arbeiter!“ (Spartakist-Extrablatt, 18. August) warnten: „Wir wissen nicht, wer die Putschisten waren, aber eines ist klar: Der einzige im Interesse der Arbeiter liegende Standpunkt war, sich sowohl dem Erdogan-Regime als auch dem Putsch zu widersetzen.“

Erstmals seit dem Militärputsch von 1980 wurde ein landesweiter Ausnahmezustand verhängt, was bedeutet, dass Erdogan für die Durchsetzung neuer Gesetze und Restriktionen das Parlament umgehen kann. Die Regierung droht offen damit, die Todesstrafe wieder einzuführen. Zehntausende aus Militär und Justiz wurden entlassen. Weitere Tausende in Schulen und Universitäten sind gekündigt worden. Mehr als 130 Medieneinrichtungen wurden geschlossen und über 150 Journalisten verhaftet. Mindestens 19 Gewerkschaften, die Berichten zufolge mit Gülen in Verbindung stehen, wurden verboten. Inzwischen hat Erdogan seine Angriffe gegen Führer und Parlamentsabgeordnete der pro-kurdischen Partei der demokratischen Völker (HDP) verschärft; mehrere wurden verhaftet und zwei Parlamentariern drohen Anklagen wegen Beteiligung an „terroristischer Propaganda“.

Der Putschversuch hat Erdogans regierender Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) auch die Gelegenheit gegeben, ihr islamistisches Programm voranzutreiben. Erdogans fundamentalistische Unterstützer, die in der Putschnacht über die Minarette der vielen Moscheen, die es überall in der Türkei gibt, zusammengerufen wurden, patrouillieren weiterhin in Istanbul, Ankara und anderen Städten auf der Straße. Frauen in westlicher Kleidung berichten von ständigen Belästigungen und Übergriffen, und Wohnviertel der kurdischen und alewitischen Minderheiten wurden angegriffen. Am 8. August wurde in Istanbul der Leichnam von Hande Kader, einer 23-jährigen Transgender-Aktivistin gefunden; sie war vergewaltigt und verstümmelt worden, bevor man ihren Leichnam in Brand setzte. Demonstranten in Istanbul haben den Mord an Kader angeprangert, der Teil einer Welle von Angriffen auf Homosexuelle und Transsexuelle ist.

Seit die AKP 2002 als „gemäßigte Islamisten“ an die Macht kam, propagiert sie ein Programm der Islamisierung. Diese Stoßrichtung wurde von Erdogan in den 1990er-Jahren, als er noch Bürgermeister von Istanbul war, folgendermaßen zusammengefasst: „Unser einziges Ziel ist ein islamischer Staat.“ In der Türkei gibt es heute fast 90 000 Moscheen, eine Moschee pro 900 Einwohner, es gibt mehr Imame (Vorbeter) als Ärzte und Lehrer. Während seiner ersten Amtszeit als Premierminister versuchte Erdogan ohne Erfolg, aus Ehebruch eine Straftat zu machen. Er predigte, Frauen sollten mindestens drei Kinder haben, und zog häufig gegen Homosexuellenrechte zu Felde. Seine Regierung hat Beschränkungen beim Verkauf von Alkohol und bei der Werbung dafür durchgesetzt und damit den fundamentalistischen Banden Auftrieb gegeben, deren Angriffe auf Bars und andere Geschäfte, wo Alkohol verkauft wird, in den letzten Jahren stark zugenommen haben.

Entscheidend für die Festigung von Erdogans Macht war sein Bestreben, das Militär und andere staatliche Institutionen zu säubern – Bemühungen, die äußerst erfolgreich waren. Seit der Gründung der türkischen Republik 1923 hat sich das Militär stets als Verteidiger des Säkularismus präsentiert. Das Militär putschte 1960, 1971 und 1980, wonach immer die Arbeiterbewegung, Linke, Kurden und andere blutig unterdrückt wurden.

1997 machte das Militär in den Straßen mobil und zwang die Regierung der Vorgängerpartei der AKP zum Rücktritt. Vor allem seit 2008 begann Erdogan, nun Premierminister, das Militär von säkularistischen Offizieren zu säubern, die in seinen Augen eine Gefahr für seine Autorität darstellten. Wie wir in „Türkei: Massenproteste erschüttern Erdogan-Regime“ (Spartakist Nr. 199, August 2013) feststellten, „ist in der Türkei die Armee heute den Islamisten untergeordnet“.

Auch in Polizei und Justiz führten Premierminister Erdogan und seine AKP Säuberungen durch. Im Rahmen dieser Säuberungen erhielten die Unterstützer von Gülen, der damals mit Erdogan verbündet war, und seine Bewegung Hizmet (Dienst) in diesen Institutionen wie auch im Militär Machtpositionen. Doch als 2013 die säkularistischen Kräfte praktisch neutralisiert waren, zerstritten sich die AKP und Hizmet. Als Gülen-Unterstützer eine Reihe von medienwirksamen Verhaftungen von Erdogan-Leuten wegen Korruption vornahmen, ging der Premierminister gegen Hizmet vor und führte eine Reihe von Säuberungen durch, die im Gefolge des gescheiterten Putsches gewaltig zunahmen. Das Regime fordert nun von Washington, Gülen auszuliefern, der seit 1999 in den USA lebt; die USA blieben bis jetzt eine offizielle Antwort schuldig.

Die Obama-Regierung ihrerseits belehrte das Erdogan-Regime scheinheilig, es möge doch bei seiner Reaktion auf den Putsch die „demokratischen Prinzipien“ beachten. Doch wirklich beunruhigt ist Washington darüber, dass die Massensäuberung in der Armee den Einfluss der USA auf das türkische Militär, die zweitgrößte Armee der NATO, schwächen werde. So heißt es in einem Artikel von nbcnews.com (16. August):

„Zu den im letzten Monat Entlassenen gehört auch ein Kader von pro-amerikanischen, NATO-freundlichen Offizieren, die von Experten als ,Atlantiker‘ bezeichnet werden. Sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass Erdogan die Stationierung amerikanischer Kampfflugzeuge und Drohnen auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik zuließ, die gegen IS-Ziele im Nordirak und in Syrien eingesetzt werden.

Da jetzt diese Offiziere in Ungnade gefallen sind, könnte es sein, dass Washington als Folge von Erdogans Säuberung an Einfluss verliert.“

Als sich General Joseph Votel, der Befehlshaber der US-Streitkräfte im Nahen Osten, darüber beklagte, dass viele türkische Offiziere, mit denen die USA zu tun haben, hinausgesäubert worden sind, musste er sich in scharfer Form zurechtweisen lassen. Einige türkische Amtsträger werfen den USA vor, hinter dem Putsch zu stecken, was die USA selbstverständlich abstreiten. Erdogan erwiderte Votel: „Was nehmen Sie sich heraus?“

Die Türkei braucht eine leninistische Arbeiterpartei

Erdogan hat wirklich eine Unterstützerbasis – bei der Bourgeoisie im anatolischen Kernland, bei den dörflichen Massen und in den städtischen Elendsvierteln. Gleichzeitig ist die türkische Gesellschaft immer noch zutiefst polarisiert. 2013 wurde das Land von Massenprotesten erschüttert, an denen sich etwa dreieinhalb Millionen Menschen beteiligten. Ausgelöst wurden sie durch brutale Polizeiangriffe auf Demonstranten, die gegen ein geplantes Bauprojekt im Gezi-Park in der Nähe des historischen Taksim-Platzes im Zentrum Istanbuls protestierten. In den Protesten kam der tief sitzende Unmut jüngerer Elemente der höher gebildeten städtischen Mittelschichten über das islamistische Regime zum Ausdruck. Einige Arbeiter der politisch gespaltenen Gewerkschaftsbewegung in der Türkei beteiligten sich daran wie auch Mitglieder der unterdrückten kurdischen nationalen Minderheit. Der Regierung gelang es schließlich, die Protestbewegung zu zerschlagen durch erbarmungslose Repression und indem sie die weit verbreitete antikurdische Stimmung ausnutzte.

Die Türkei ist eines der wenigen Länder im Nahen Osten mit einem bedeutenden Industrieproletariat. Doch weniger als zehn Prozent der Arbeiterschaft sind gewerkschaftlich organisiert, eine Widerspiegelung der enormen Niederlage, die der Arbeiterbewegung durch den Militärputsch von 1980 und die folgenden drei Jahrzehnte schwerer Repression zugefügt wurde. Zum Beispiel war der linksgerichtete Bund Progressiver Gewerkschaften (DISK) bis 1992 verboten.

In den letzten Jahren blieben jedoch bei Angriffen auf die Arbeiterklasse die Reaktionen nicht aus. Im Mai 2015 führten mehr als 20 000 Autoarbeiter in Bursa, Ankara und anderen Städten eine Reihe wilder Streiks für höhere Löhne gegen einen von Türk Metal, der dominierenden Gewerkschaft in der Autobranche, und den Bossen ausgehandelten Vertrag durch. Zusätzlich zu der Forderung nach höheren Löhnen forderten die streikenden Arbeiter das Recht, einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, was die aufgestaute Wut über die bürokratische Führung von Türk Metal widerspiegelte. Gegen Ende der Streikwelle hatten mehrere tausend Arbeiter Türk Metal verlassen, um sich der Metallarbeitergewerkschaft von DISK anzuschließen.

Als Antwort auf den Putsch gab DISK am 22. Juli eine Erklärung heraus, in der sie den Ausnahmezustand mit der richtigen Bemerkung anprangerte, solche Maßnahmen seien „gleichbedeutend mit außergerichtlichen Ermordungen, Massakern, dem Verschwindenlassen von Verhafteten und mit Folterungen“, und warnte: „Es ist auch klar, dass Arbeiterrechte durch den Ausnahmezustand ernstlich bedroht sind.“ Allerdings steht in der DISK-Erklärung: „Die Lösung ist Demokratisierung.“ Der Angriff der Regierung auf demokratische Rechte muss bekämpft werden. Aber man muss verstehen, dass kapitalistische Demokratie – die in der Türkei immer schwach und zerbrechlich ist – ein Deckmantel für die Diktatur der Bourgeoisie ist, deren Herrschaft notwendigerweise auf Ausbeutung und weit verbreiteter Unterdrückung beruht.

Für das Proletariat ist es lebenswichtig, den Kampf zum Sturz der kapitalistischen Herrschaft aufzunehmen und sich dafür an die Spitze aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu stellen. Entscheidend für diese Perspektive ist die Schmiedung einer leninistischen Arbeiterpartei, die dafür kämpft, die Arbeiterklasse von religiöser Reaktion, türkischem Chauvinismus und allen Formen von Nationalismus zu brechen. Eine solche Partei würde den Kampf für Frauenbefreiung durch proletarische Revolution und für kurdische Selbstbestimmung anführen, ohne die der Kampf für Arbeitermacht in der Türkei schwerlich vorstellbar ist.

Nieder mit dem Krieg der Türkei gegen das kurdische Volk!

Die herrschende Elite der Türkei, ob säkular oder religiös, ist sich darin einig, die nationalen Bestrebungen der Kurden zu unterdrücken. Seit August letzten Jahres wurden mehrere kurdische Städte und Ortschaften im Südosten der Türkei von türkischen Panzern und schwerer Artillerie dem Erdboden gleichgemacht. Während das Regime seine Todesschwadronen auf die PKK losließ, wurden in nur wenigen Monaten Hunderte von Zivilisten getötet und mehr als 350 000 Menschen vertrieben. Erdogan hat drohend geschworen, Türkisch-Kurdistan anzugreifen, bis es „völlig gesäubert“ ist von PKK-„Terroristen“.

Eines der am schlimmsten betroffenen kurdischen Zentren ist Cizre, eine Stadt von mehr als 100 000 Einwohnern in der Provinz Sirnak. Vom 14. Dezember bis zum 2. März wurde dort eine Ausgangssperre verhängt und die Stadt abgeriegelt. Als die Belagerung aufgehoben wurde, waren bis zu 160 Zivilisten getötet worden. Bei der vielleicht bisher größten Gräueltat des Krieges töteten türkische Sicherheitskräfte 130 unbewaffnete Zivilisten und verwundeten Kämpfer, die in drei Kellern eingeschlossen waren. Das ist nur das jüngste Kapitel von Angriffen, die seit 1984 zehntausenden Kurden das Leben gekostet haben. Es ist wichtig, dass das internationale Proletariat für die militärische Verteidigung der PKK gegen die Türkei eintritt und den Rückzug aller türkischen Streitkräfte aus Kurdistan fordert.

Der unmittelbare Hintergrund für den gegenwärtigen Angriff auf Türkisch-Kurdistan ist die schmähliche Niederlage der AKP bei den Wahlen vom Juni 2015. Die AKP verpasste nicht nur die parlamentarische Mehrheit, sondern die pro-kurdische HDP kam über die 10-Prozent-Hürde und zog mit mehr als 13 Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Die HDP ist eine kleinbürgerlich-nationalistische Partei, die auch wegen ihres fortschrittlichen Anstrichs von einer beträchtlichen Anzahl türkischer Liberaler und Linker unterstützt wird. Noch schmählicher war es für Erdogan, dass die HDP trotz ihres Eintretens für Frauen- und Homosexuellenrechte einen erheblichen Stimmenanteil von der sozial konservativen kurdischen Basis der AKP gewinnen konnte. Diese Kurden waren darüber verärgert, dass 2014 Erdogan kurdischen Kämpfern auf dem Weg nach Kobane, einer kurdischen Stadt in Syrien, die damals vom IS belagert wurde, die Durchreise verweigert hatte.

Das Regime reagierte auf das Wahlergebnis vom Juni 2015 mit der Ankündigung von Neuwahlen für den November. Der Waffenstillstand mit der PKK von 2013 wurde für null und nichtig erklärt, welcher wegen der militärischen Erfolge der PYD/YPG in Syrien ohnehin schon immer weniger eingehalten wurde, und das Regime verschärfte massiv seine antikurdische Offensive, um einen Taumel von türkischem Chauvinismus zu entfachen. Zu dieser Eskalation gehörten eine Reihe gewalttätiger Angriffe gegen die HDP und ihre Unterstützer, darunter Bombenanschläge, die dem IS in die Schuhe geschoben wurden. Im Juli wurden in der Grenzstadt Suruç bei einem Selbstmordattentat auf eine Versammlung von überwiegend kurdischen Aktivisten durch eine Bombe mehr als 30 Menschen getötet und mehr als 100 weitere verwundet. Im September griffen ganze Horden überall im Land HDP-Büros und kurdische Geschäfte an und setzten sie in Brand. Höhepunkt der Gewalt waren zwei Bombenanschläge von Selbstmordattentätern im Oktober auf eine Friedenskundgebung mehrerer linker Gruppen, Gewerkschaften und der HDP in Ankara, bei denen mindestens 128 Menschen getötet wurden.

Der Schachzug gelang. Im November erhielt die AKP ihre parlamentarische Mehrheit, vor allem, weil sie der Partei der Nationalistischen Bewegung [MHP] – mit der die faschistoiden Grauen Wölfe verbunden sind – Stimmen abjagen konnte, indem sie diese auf ihrem eigenen Terrain des verschärften türkischen Nationalismus übertrumpfte.

Das kurdische Volk ist die größte Nation im Nahen Osten ohne eigenen Staat, mit etwa 25 bis 35 Millionen Menschen, deren Heimat die Gebirgsregion ist, die sich über die Grenzen der Türkei, Syriens, des Irak und des Iran erstreckt. Die Hälfte von ihnen lebt in der Türkei, wo die Unterdrückung der Kurden das Mittel ist, mit dem die mörderischen Herrscher der Türkei die türkischen Massen, darunter auch erhebliche Teile des Proletariats, an sich binden.

Wenn sich das Proletariat der Türkei jemals von kapitalistischer Ausbeutung befreien soll, muss es sich dem antikurdischen Chauvinismus entgegenstellen und den Kampf für kurdische Selbstbestimmung aufnehmen. Unser Ziel ist es, die türkische Arbeiterklasse für den Kampf für ein vereinigtes unabhängiges Kurdistan zu gewinnen, als Teil des Kampfes für eine Sozialistische Republik Vereinigtes Kurdistan in einer Sozialistischen Föderation des Nahen Ostens. Das Eintreten für kurdische Selbstbestimmung würde die Möglichkeiten des US-Imperialismus einschränken, die schwierige Lage der Kurden dazu auszunutzen, die Region weiterhin zu beherrschen, und würde auch die schmutzigen Manöver der kurdischen Nationalisten durchkreuzen. Nur durch den Kampf gegen alle Erscheinungsformen von türkischem Chauvinismus und nationaler Unterdrückung kann das türkische Proletariat den Weg freimachen für einen gemeinsamen Kampf mit den kurdischen Arbeitern gegen ihre gemeinsamen kapitalistischen Ausbeuter und Unterdrücker.

Wir unterstützen auch die Unabhängigkeit der Kurden von einzelnen kapitalistischen Staaten (zum Beispiel das Recht der Kurden in der Türkei auf Lostrennung). Doch im Irak und in Syrien haben die kurdischen Nationalisten den gerechten Kampf für Selbstbestimmung gegenwärtig ihrer Allianz mit dem US-Imperialismus untergeordnet. Das ist ein Verbrechen, für welches das seit langem unterdrückte kurdische Volk den Preis zahlen wird.

Kurz nachdem sich die kurdischen Führer dem imperialistischen Krieg gegen den IS angeschlossen hatten, warnten wir: „Kurdische Führer verkaufen sich an die Imperialisten und an verschiedene bürgerliche Regime der Region und tragen so dazu bei, dass die Tricks der Teile-und-herrsche-Politik, die unausweichlich kommunale, nationale und religiöse Spannungen entfachen und der verschärften Unterdrückung der kurdischen Massen dienen, ewig weitergehen“ (zitiert in „Über ISIS und den Imperialismus“, Spartakist Nr. 210, Oktober 2015). Jetzt, nach dem Einmarsch der Türkei in Syrien, fürchten viele Kurden zu Recht, dass ihre imperialistischen Schutzherren sie erneut verraten werden. Wie die New York Times (1. September) feststellte: „Ausgehend von ihrer Geschichte sehen sich die Kurden als Spielball der Weltmächte, der in Stellvertreterkämpfen benutzt wird, wenn es für jemanden von Interesse ist, und dann fallen gelassen wird.“

Kleinbürgerlicher Nationalismus der PKK: eine Sackgasse

Während wir für die militärische Verteidigung der PKK in der Türkei eintreten, sind wir erbitterte Gegner ihres kleinbürgerlich-nationalistischen Programms, das ein Hindernis für die Befreiung der kurdischen Massen darstellt. Die PKK entstand als Reaktion auf die allseitige Unterdrückung der Kurden und wurde formal 1978 gegründet. Unter der Führung von Abdullah Öcalan (mit dem Spitznamen Apo, also „Onkel“) erhob sie Anspruch auf den „Marxismus-Leninismus“, was die städtischen Wurzeln von Öcalan widerspiegelt, der in Ankara zu einer Zeit Student war, als die Lehren von Mao Zedong und Che Guevara bei radikalisierten Jugendlichen populär waren. Trotz ihrer Rhetorik hatte die PKK nie etwas mit Marxismus zu tun.

Wie viele türkische und kurdische Linke Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre schlug Öcalan, der den Kampf für eine revolutionäre, auf dem türkischen und kurdischen Proletariat basierende leninistische Partei ablehnte, den Weg des Guerillakampfes ein. Er und seine Unterstützer zogen sich aufs Land zurück und wandten sich von den kämpferischen Arbeitern Istanbuls, Ankaras, Sivas’ und Adanas ab.

Sicherlich führt die kleinbürgerlich-nationalistische PKK seit mehr als drei Jahrzehnten einen heldenhaften militärischen Kampf gegen die türkische Armee und gewann so Massenunterstützung beim kurdischen Volk in Türkisch-Kurdistan, in den städtischen Zentren der westlichen Türkei und in der Diaspora Westeuropas und anderer Länder. Dennoch benutzt die PKK den Guerillakrieg nur dazu, sich den Weg an den Verhandlungstisch zu erkämpfen in der Hoffnung, dort der türkischen Bourgeoisie Zugeständnisse abringen zu können. Als 2013 ein Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Erdogan-Regime und der PKK in Kraft war, hatte es die Partei des Friedens und der Demokratie, eine Vorgängerin der HDP, nicht eilig, sich an den Gezi-Park-Protesten zu beteiligen, da sie fürchtete, es würde die türkische Regierung verärgern. Tatsächlich verbreiteten diese kurdischen Nationalisten Illusionen, das Erdogan-Regime könne für die Sache des kurdischen Volkes von Vorteil sein.

Besonders seit der konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion hat die PKK ihre Politik zunehmend an das reaktionäre Klima der postsowjetischen Welt angepasst und sogar ihre formale Forderung nach Unabhängigkeit durch die Forderung nach der einen oder anderen Art von „Autonomie“ ersetzt. Aber regionale Autonomie unter dem Kapitalismus bedeutet, dass die entscheidende Macht weiterhin in den Händen des Nationalstaats ist. Durch die gegenwärtige Anti-PKK-Offensive wird noch einmal klar, dass selbst bei einem solchen Abkommen nur der türkische Staat und seine Armee bestimmen werden, welche Rechte Kurden bekommen oder nicht. Das wird niemals zur nationalen Befreiung der Kurden führen.

Bei ihrem Bemühen um Zugeständnisse vom türkischen Staat appellieren die kurdischen Nationalisten auch an die „demokratischen“ westlichen Imperialisten, auf die Türkei Druck auszuüben. Ein Artikel von Selahattin Demirtas, einem der beiden Vorsitzenden der HDP, in der Juli-Ausgabe der englischsprachigen Ausgabe von Le Monde Diplomatique vermittelt ein eindringliches Bild von den brutalen Angriffen Erdogans und der AKP auf das kurdische Volk und Oppositionelle in der Türkei. Doch das Kernstück des Artikels besteht aus einem Aufruf an die Europäische Union und ihre Institutionen, den Kurden zu Hilfe zu kommen:

„Das wegen der Flüchtlingskrise besorgte Europa schaut weg, während die Türkei Menschenrechte und demokratische Werte mit Füßen tritt. Die USA sind vor allem mit dem Krieg gegen den IS beschäftigt. Beide Fragen sind sicherlich von Bedeutung. Aber es ist nur schwer verständlich, weshalb Europa und die übrige Welt über die damit direkt zusammenhängende Lage der Kurden in der Türkei hinwegsehen. Noch schwerer ist ihr Schweigen zu den ernsthaften Verletzungen grundlegender Menschenrechte zu verstehen, die von Erdogan und der AKP begangen werden, die die Flüchtlinge vor dem Krieg in Syrien als Druckmittel benutzen.“

Im Gegensatz zu den Illusionen der kurdischen Nationalisten sind die US- und die EU-Imperialisten Feinde der Unterdrückten, auch der Kurden. Zusammen mit den USA trainiert und beliefert Deutschland, die Hauptmacht der EU, seit langem Todesschwadrone des türkischen Militärs, die in Kurdistan eingesetzt werden. Sowohl die EU als auch die USA bezeichnen gemeinsam mit der Türkei die PKK als „terroristisch“ und haben sie verboten, und die CIA spielte bei der Gefangennahme Öcalans durch die Türkei 1999 eine entscheidende Rolle. Wir fordern Freiheit für Öcalan und kämpfen gegen die PKK-Verbote. Grundsätzlicher betrachtet ist die EU ein Konsortium kapitalistischer Mächte, deren Zweck in der zunehmenden Knechtung der Arbeiterklasse ganz Europas und in der Beherrschung der schwächeren EU-Länder durch die imperialistischen Oberherren, vor allem Deutschland, besteht. Die IKL war schon immer gegen die EU.

Mehr oder weniger starke Illusionen in die kurdischen Nationalisten verbreiten reformistische Gruppen wie das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI, in Deutschland die SAV) von Peter Taaffe und die in Britannien beheimatete Gruppe Workers Power. Beide Gruppen unterstützten eine Stimmabgabe für die HDP. In einem auf der Website des CWI veröffentlichten Artikel vom 20. November 2015 unterstützte der türkische CWI-Ableger eine Stimmabgabe für die HDP und rief DISK und andere Gewerkschaftsföderationen wie auch linke Gruppen dazu auf, „gemeinsam mit der HDP“ solle man „eine zentrale Konferenz für die gemeinsame Initiative“ zum Aufbau „eines Demokratieblocks organisieren“. Die Liga für die Fünfte Internationale von Workers Power (in Deutschland die GAM) brachte am 7. Juni 2015 einen Artikel mit der Überschrift „Türkei: Stimmt am 7. Juni für die HDP – Baut dann eine revolutionäre Partei auf“. Im Unterschied zum CWI stellt Workers Power zutreffend fest, dass „die HDP keine Partei der Arbeiterklasse, sondern eine kleinbürgerliche Organisation ist“ – um dann trotzdem zur Stimmabgabe für sie aufzurufen.

Wir verteidigen die HDP und ihre Führer gegen die Angriffe des türkischen Staates und fordern, alle Anklagen gegen sie fallen zu lassen. Doch ein Aufruf zur Stimmabgabe für die HDP bedeutet, das Proletariat der Türkei einer kleinbürgerlichen Partei unterzuordnen, deren Programm per definitionem den historischen Interessen der Arbeiterklasse feindlich entgegensteht. Der von Reformisten aller Schattierungen seit langem propagierte Aufruf an die Arbeiterklasse, „fortschrittliche“ und „demokratische“ nichtproletarische Formationen zu unterstützen, ist historisch eines der größten Hindernisse, das die Arbeiterklasse davon abhält, sich sozialistisches Bewusstsein anzueignen. Durch so einen Aufruf wird dem Proletariat die politische Unabhängigkeit von seinem Klassenfeind vorenthalten.

Bemerkenswerterweise ruft das CWI zwar zur Stimmabgabe für die HDP auf, verteidigt aber nicht die PKK gegen die türkischen Streitkräfte. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass das CWI diejenigen unterstützt, die von den „demokratischen“ Imperialisten unterstützt werden. So hofiert es in einem Artikel nach dem anderen die PYD/YPG in Syrien, die mit dem US-Imperialismus verbündet sind. Doch in einem Artikel vom 1. März über die antikurdische Offensive des türkischen Staates verurteilt das CWI die „bewaffneten Einzelaktionen“ der PKK als „kontraproduktiv“, ohne auch nur darauf hinzuweisen, dass das internationale Proletariat in der Türkei eine Seite hat.

Kurdische Aktivisten, die mit der zum Scheitern verurteilten Guerilla-Strategie der PKK und deren reaktionärer Politik konfrontiert sind, müssen sich mit dem grundlegenden Unterschied zwischen der kleinbürgerlichen Strategie der PKK und der marxistischen Perspektive der proletarischen Revolution auseinandersetzen. Die Kurden sind nicht einfach die Opfer ihrer nationalen Unterdrückung und des Verrats ihrer Führer. Es gibt eine ziemlich große kurdische Arbeiterklasse mit einer Geschichte von militanten Kämpfen. Das kurdische Proletariat befindet sich zum größten Teil außerhalb Kurdistans in industriellen Zentren wie Istanbul und den Bergbaugebieten am Schwarzen Meer und in der Südtürkei; es existiert auch in Westeuropa, insbesondere in Deutschland. Die Macht, das kurdische Volk zur Freiheit zu führen, liegt beim Industrieproletariat in den städtischen Zentren.

Für permanente Revolution!

Während die Türkei die meiste Militärhilfe von den USA erhält, sind die türkischen Kapitalisten wirtschaftlich vom deutschen Imperialismus abhängig und exportieren nach Deutschland mehr als in irgendein anderes Land. Inzwischen sind die Beziehungen zu Deutschland aber auch angespannt. Das Abkommen, das im vorigen Jahr zwischen der Türkei, wo es mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge gibt, und der EU zur Begrenzung der Zahl von Migranten auf dem Weg nach Europa abgeschlossen wurde, steht vor dem Aus.

Am 31. Juli verbot ein deutsches Gericht Erdogan, über Satellit an eine in Köln abgehaltene „Anti-Putsch“-Kundgebung das Wort zu richten. Dann wurde am 16. August im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ARD berichtet, dass in einem vertraulichen Papier der deutschen Regierung der Türkei vorgeworfen werde, die „zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens“ zu sein. Das türkische Regime reagierte damit, dass es die „verdrehte Mentalität“ in dem Dokument verurteilte.

Nachdem Erdogan an die Macht gekommen war, machte er sich für die Tugenden der EU stark und stellte die EU-Mitgliedschaft als den Weg zu wirtschaftlichem Wohlstand dar. Doch während die voreingenommenen europäischen Herrscher bei der Aufnahme der Türkei, eines großen und überwiegend muslimischen Landes, in die EU mauerten, begann Erdogan sich anderweitig umzusehen. Sein Regime legt besondere Betonung auf die Doktrin von der „strategischen Tiefe“ oder auf das „Neo-Osmanentum“, wie es ein ehemaliger Außenminister genannt hat: die Verstärkung des türkischen Einflusses in ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches wie auch dort, wo Turksprachen gesprochen werden. Von 2002 bis 2010 verfünffachte sich der Handel mit der arabischen Welt. Parallel zu dieser Vision eines wiedererstehenden Osmanentums versucht der Möchtegern-Sultan Erdogan mehr Macht in den Händen des Präsidenten zu konzentrieren, ein Amt, das er seit 2014 innehat.

Trotz ihres regionalen Einflusses ist die Türkei ein Land mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung voller sozialer und politischer Widersprüche. Während 2010 etwa 25 Prozent der türkischen Arbeiterschaft in der Industrie beschäftigt waren und mehr als 50 Prozent im Dienstleistungssektor, arbeiteten etwa 25 Prozent – einschließlich landloser Bauern und Pächter – immer noch im landwirtschaftlichen Sektor. Die türkische Wirtschaft ist in hohem Maße von ausländischem Kapital abhängig. Gesetze aus dem Jahr 2001 erlauben es der Weltbank, der Welthandelsorganisation und der EU, die Agrarpolitik zu diktieren, gleichzeitig schreiben sie vor, die staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft abzuschaffen, und treiben die Privatisierung der Agrarbetriebe voran. Die Landwirtschaft der Türkei wurde der imperialistischen Agrarindustrie weiter untergeordnet.

Die türkische Republik, die 1923 unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks entstand, erbte ein wirtschaftlich rückständiges Land ohne konzentrierte moderne Industrie. Um den kapitalistischen Nationalstaat zu errichten, bediente sich die kemalistische Bewegung des türkischen Nationalismus, auch durch schonungslose Unterdrückung nationaler Minderheiten wie des kurdischen und des armenischen Volkes. Gleichzeitig nahmen die Kemalisten als Avantgarde der aufkommenden türkischen Bourgeoisie ein Reformprogramm in Angriff, das die Türkei zu einem modernen kapitalistischen Nationalstaat entwickeln sollte. Sie erklärten das Land zu einer säkularen Republik und schafften das Kalifat (das Amt des islamischen Herrschers) ab. Der Islam war nicht länger Staatsreligion. Religiöse Symbole – der Schleier in Schulen und öffentlichen Institutionen und der Fez überall – wurden verboten. Das lateinische Alphabet wurde eingeführt und der westliche Kalender übernommen.

Atatürk sah sich selbst als Modernisierer, der mit einigen wenigen Federstrichen das Land aus dem Mittelalter ins 20. Jahrhundert katapultieren könnte. Doch seine Reformen, die einer rückständigen Gesellschaft aufgepfropft wurden, wo zu 80 Prozent die Bevölkerung auf dem Land lebte und feudale Verhältnisse herrschten, konnten grundlegende demokratische Fragen nicht lösen. Es gab keinen Versuch einer Landreform oder der Enteignung türkischer Grundbesitzer. Eine echte Trennung von Moschee und Staat hat nie existiert. Stattdessen wurde die religiöse Hierarchie durch das Amt für religiöse Angelegenheiten unter die Kontrolle des Staates gestellt.

Der Kemalismus repräsentiert den Gipfel dessen, was im Nahen Osten unter dem Kapitalismus erreicht werden konnte. Durch Atatürks Reformen kam es tatsächlich in den städtischen Zentren zu einem gewissen authentischen Säkularismus, der in anderen Ländern der Region kaum zu finden ist. Städtische kleinbürgerliche Frauen profitierten zweifellos davon. Doch angesichts des materiellen Mangels im Land hat sich das Leben der überwiegenden Mehrzahl der Frauen – auf dem Lande und in den Elendsvierteln der Städte – wenig geändert. Das Kopftuchverbot, das als befreiende Maßnahme gedacht war, vertiefte stattdessen die Ausgrenzung vieler Frauen aus Schulen, dem Staatsdienst und dem öffentlichen Leben. Die Kluft zwischen den säkularen, gebildeten Mittelschichten und den analphabetischen Massen, zwischen Stadt und Land, wurde größer.

Genau dieses Unvermögen des Kemalismus, die Frage der Armut und der Besitzlosigkeit der türkischen Massen anzugehen, hat zum Anwachsen des politischen Islam geführt. Entgegen dem Anspruch des Militärs, der Verteidiger des Säkularismus zu sein, begünstigten die kemalistischen Generäle wiederholt das Wachstum der Islamisten als Gegengewicht zur Linken. 1982 führte die Militärjunta in Grund- und Hauptschulen sunnitischen Religionsunterricht ein, zum Entsetzen der Säkularisten und der Alewiten, der größten religiösen Minderheit, die 10 bis 15 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmacht. Als unorthodoxer Nebenzweig des schiitischen Islam sind sie verhältnismäßig säkular und lehnen viele islamische Bräuche ab, darunter die Trennung von Männern und Frauen beim Gebet und die Tabuisierung von Alkohol. Sie werden von sunnitischen Traditionalisten als Ketzer betrachtet und wurden in der Geschichte des Osmanischen Reichs von Anfang an verfolgt.

Die Türkei stellt einen eindrucksvollen Beweis für die Theorie der permanenten Revolution des bolschewistischen Führers Leo Trotzki dar, die durch die russische Oktoberrevolution 1917 bestätigt wurde. Trotzkis Theorie liefert das Programm für die Lösung der grundlegenden Fragen, die sich in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung stellen. In solchen Ländern kann die schwache nationale Bourgeoisie, die von ihren imperialistischen Herren abhängig ist und ihr „eigenes“ Proletariat fürchtet, demokratische Fragen wie Trennung von Religion und Staat, Agrarrevolution und Befreiung von imperialistischer Unterjochung nicht lösen. So schrieb Trotzki in Die permanente Revolution (1930):

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“

Entscheidend ist die Schmiedung einer binationalen türkisch-kurdischen revolutionären Arbeiterpartei, die auch von den unterdrückten ethnischen und religiösen Minderheiten der Türkei Mitglieder gewinnen würde. Eine solche Partei, Teil einer wiedergeschmiedeten trotzkistischen Vierten Internationale, würde das Proletariat an der Spitze aller Unterdrückten beim Kampf um seine Herrschaft führen. An die Macht gelangt würde die Arbeiterklasse die Bourgeoisie und den Besitz ihrer imperialistischen Herren enteignen und eine kollektivierte Planwirtschaft einführen, in der die Produktion auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse und nicht auf Profit ausgerichtet ist. Doch die Entwicklung einer solchen sozialen Revolution wird ohne ihre internationale Ausweitung, insbesondere auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, aufgehalten und schließlich rückgängig gemacht werden.

Der Kampf für proletarische Macht in der Türkei und darüber hinaus im Nahen Osten muss mit dem Kampf für proletarische Herrschaft in den imperialistischen Zentren verbunden werden. Kurdische und türkische Arbeiter sind ein strategischer Teil der Industriearbeiterklasse in Europa, besonders in Deutschland, wo sie ein entscheidender Bestandteil der Gewerkschaften sind. Diese Arbeiter können eine lebendige Verbindung herstellen zwischen dem Kampf für eine sozialistische Revolution im Nahen Osten und dem Kampf der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Westeuropas. Wie wir in „Türkei: Frauen und permanente Revolution“ (Spartakist Nr. 170, März 2008) schrieben:

„Im Nahen Osten kann der Kampf gegen den Imperialismus und seine neokolonialen Stellvertreter-Regime nicht innerhalb der Grenzen eines einzelnen Landes gelöst werden. Gerechtigkeit für das palästinensische Volk, nationale Emanzipation für die Kurden und andere ethnische und religiöse Minderheiten, Befreiung der Frauen von Schleier und islamischem Recht erfordern, die kapitalistischen Regime von Iran über Ägypten bis zu den Küsten des Bosporus hinwegzufegen und eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens zu errichten. Der Kampf für proletarische Macht im Nahen Osten muss verbunden werden mit dem Kampf für die Herrschaft der Arbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Dies erfordert die Schmiedung internationalistischer Arbeiterparteien, um die arbeitenden Massen der Region für den Kommunismus von Lenin und Trotzki zu gewinnen und unbeugsam für die Macht der Arbeiterklasse zu kämpfen.“

Übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1095, 9. September