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Spartakist Nummer 204 |
August 2014 |
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Aus den Archiven des Marxismus
Über den Charakter des Ersten Weltkriegs
Sinowjews Krieg und Frieden
Anlässlich des einhundertsten Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs drucken wir nachfolgend Grigorij Sinowjews Aufsatz „Krieg und Frieden“ ab, erschienen am 31. Januar 1917 in Nummer 58 des Sozialdemokrat, dem Zentralorgan der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Bolschewiki. Er ist Teil der 1921 von der Kommunistischen Internationale unter dem Titel Gegen den Strom veröffentlichten Sammlung von ausgewählten Aufsätzen, die von W. I. Lenin und G. Sinowjew von Ende 1914 bis Anfang 1917 verfasst wurden. Gegen den Strom ist unerlässlich, will man die Entwicklung des Programms verstehen, welches es den Bolschewiki 1917 ermöglichte, die revoltierenden Arbeiter, Soldaten und Bauern des zaristischen Russlands in der Oktoberrevolution an die Macht zu führen, den imperialistischen Krieg zwischen den kapitalistischen Herrschern tatsächlich umzuwandeln in einen Bürgerkrieg zum Sturz der Herrschaft der Kapitalisten und damit den Weg zu eröffnen zur Errichtung einer Gesellschaftsordnung, wo Krieg und Ausbeutung ein Relikt der Vergangenheit sein werden, des Sozialismus.
Die SPD, die im Vormonat noch zu Demonstrationen gegen den Krieg aufgerufen hatte, bewilligte am 4. August 1914 die Kriegskredite des Kaisers und verkündete gemeinsam mit der mit ihr verbundenen Gewerkschaftsführung die Politik des Burgfriedens, nach der sie versuchte, die Kriegsanstrengungen des deutschen Imperialismus nicht durch Streiks und Klassenkampf seitens der Arbeiter zu schwächen. Bis auf die russischen Bolschewiki, die serbischen Sozialdemokraten und die „engherzigen Sozialisten“ Bulgariens kapitulierten alle Sektionen der Zweite Sozialistischen Internationale vor ihrer jeweils eigenen Bourgeoisie, was den Aufbau einer neuen, dritten, vom Opportunismus gereinigten Internationale auf die Tagesordnung setzte.
Der revolutionäre Flügel der SPD unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stellte sich gegen den Verrat der SPD-Führung. Liebknecht, der sich bei der ersten Abstimmung über die Kriegskredite im Reichstag noch falscher Weise der Fraktionsdisziplin unterwarf (die Linken hatten jahrelang immer auf Disziplin gepocht, um den rechten Flügel unter Kontrolle zu halten), stimmte bei der zweiten Abstimmung im Dezember 1914 als einziger Abgeordneter mit Nein. Seine Losung war „Burgkrieg, nicht Burgfrieden“ und „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Für ihren Kampf wurden Liebknecht und Luxemburg ins Gefängnis geworfen, und wer in den Fabriken Ärger machte und erwischt wurde, wurde an die Front geschickt und verheizt. Währenddessen wurden die rechten SPD-Führer zu angesehenen Handlangern der Regierung.
In seiner Rezension in der Weltbühne 1926 bezeichnete Kurt Tucholsky Gegen den Strom treffend als die „fünfhundert bedeutendsten Seiten, die im Kriege geschrieben worden sind“ und führte u. a. aus:
„Uns interessiert am meisten das Urteil über die deutschen Kriegskreditbewilliger, über die Herrliches gesagt wird… Lenin: ,Über die Stellungnahme zum Kriege konnten sich (1914) einigermaßen frei nur eine Handvoll Parlamentarier äußern, das heißt: ohne sofort gepackt und in die Kaserne geschleppt zu werden, ohne von unmittelbarer Erschießung bedroht zu sein, ausschließlich eine Handvoll Parlamentarier. Sie stimmten frei, rechtsgemäß, sie konnten noch dagegen stimmen, dafür wurde man nicht einmal in Russland geschlagen oder misshandelt, ja nicht einmal verhaftet …‘ Und wenn sie es getan hätten? fragt die Gegenseite. Wäre dann der Krieg abgebrochen worden. Nein. Aber die Massen, Unorganisierte und besonders Organisierte, hätten Mut bekommen, hätten den Krieg besser durchschaut und hätten das getan, was man ihnen heute in Deutschland vorwirft, und was sie leider nicht getan haben: sie hätten die Front erdolcht.
Denn hier scheiden sich die Wege: der breite der Kautsky, Bernstein, Südekum, Scheidemann, Ebert und der schmale, der zum Ziel führt. Der Arbeiter hat kein Vaterland; er kämpft, wenn er dieses Vaterland verteidigt, einzig und allein für den Wechsel seiner Ausbeuter, und im großen Ganzen kann ihm gänzlich gleichgültig sein, unter welcher Fahnenfarbe er ausgenutzt wird.“
Anders als die Bolschewiki spaltete der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie in Deutschland um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nicht von den Opportunisten, auch nicht dann, als die Opportunisten mit Ausbruch des Kriegs offen auf die Seite der eigenen Bourgeoisie überliefen und zu Sozialchauvinisten wurden. Es war die rechte SPD-Führung, die die Linken rausschmiss, erst 1916 aus der Reichstagsfraktion und dann 1917 aus der Partei. Liebknechts und Luxemburgs Gruppe Internationale, die ab 27. Januar 1916 die „Spartakusbriefe“ herausgab, ging gemeinsam mit Revisionisten wie Eduard Bernstein und Zentristen wie Karl Kautsky, die Pazifismus predigten und eine Wiedervereinigung mit den rechten Opportunisten und Sozialchauvinisten nach dem Krieg anstrebten, in die USPD.
Als im November 1918 der lang erwartete revolutionäre Sturm hereinbrach und ganz Deutschland mit Arbeiter- und Soldatenräten übersät war, waren die revolutionären Linken in der USPD vergraben und verfügten nicht über eine im programmatischen Kampf gegen die prokapitalistischen Reformisten und ihre zentristischen Helfer gehärtete Partei von Berufsrevolutionären, wie es die Bolschewiki in Russland 1917 waren. Da es keinen organisierten revolutionären Gegenpol gab, gelang es der SPD-Führung, sich an die Spitze der Arbeiterräte zu setzen und diese mittels der konstituierenden Versammlung dem bürgerlichen Parlament unterzuordnen. Erst als die USPD-Führung in die kapitalistische Regierung mit der SPD eintrat, brachen Liebknecht und Luxemburg mit ihr und gründeten im Dezember 1918 die KPD, was aber zu spät war, um die Revolution von 1918/19 vor ihrer Niederschlagung durch Ebert und Scheidemann mittels der von „Bluthund“ Gustav Noske organisierten Freikorps zu bewahren. Aber nun gab es eine revolutionäre Partei und damit die Möglichkeit für den Sieg des Proletariats. Am 15. Januar 1919 ermordeten Freikorps mit Billigung der SPD-Führung Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und so wurde die junge KPD geköpft.
Sinowjews „Krieg und Frieden“ ist eine marxistische Analyse der Kriegsziele der am Ersten Weltkrieg beteiligten kapitalistischen Mächte, Ziele, die die Herrscher vor den Arbeitermassen, die sie dafür zu Millionen auf die Schlachtbank schickten, im Dunkeln halten mussten. Denn wie für Marxisten klar war, handelte es sich um einen interimperialistischen Krieg um die Neuaufteilung der Welt. Es gilt Clausewitz’ Feststellung, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, und der Erste Weltkrieg war die gewaltsame Fortsetzung der kapitalistischen Politik von Ausbeutung und Unterdrückung seitens aller imperialistischen Räuber, ob Entente oder Mittelmächte. Die marxistische Schlussfolgerung: „Ohne eine Reihe von Revolutionen ist der sogenannte demokratische Frieden eine spießbürgerliche Utopie“ (Lenin, Sozialismus und Krieg, 1915). Die verschiedenen am Krieg beteiligten nationalen Bourgeoisien kaschierten ihre Kriegsziele mit der Lüge von der „Vaterlandsverteidigung“, die erst durch den Verrat der Sozialdemokratie ihre Massenwirkung entfalten konnte.
Nach dem Krieg schrieben die Sieger die Geschichte und dem unterlegenen deutschen Imperialismus wurde im Versailler Raubfriedensvertrag die alleinige Kriegsschuld zugeschoben. Gleichzeitig wurde in allen Ländern massiv Geschichts„forschung“ betrieben mit dem Ziel, die jeweils eigene Seite von der Kriegsschuld zu entlasten. Die Schuld am Ersten Weltkrieg trägt aber nicht die eine oder andere imperialistische Macht, die eine oder andere fehlgeleitete Politik oder Entscheidung, sondern das kapitalistische Ausbeutersystem brachte eine Reihe rivalisierender Bündnisse von imperialistischen Staaten und ihren schwächeren Satelliten hervor, das seine Widersprüche von entgegengesetzten Interessen nur auf Grundlage von Macht, d. h. letztlich Krieg und Gewalt lösen konnte und kann.
Heute wird das bürgerliche Verwirrspiel zum hundertsten Male erneut aufgeführt, denn wir haben nach wie vor den von seinen grundlegenden Widersprüchen zerrissenen Kapitalismus, ein sterbendes, faulendes System in seinem letzten und höchsten Stadium, dem Imperialismus. Die Finanzkrise hat die ökonomische Dominanz des deutschen Imperialismus in der EU scharf aufgezeigt und verstärkt. Gleichzeitig haben aber auch die nationalen Spannungen enorm zugenommen und es zeigt sich, dass die alten Widersprüche weiter wirksam sind: Die Produktivkräfte sind seit langem über den engen Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen, bleiben aber gefesselt durch die kapitalistischen Eigentumsformen, die auf dem Nationalstaat basieren.
In Deutschland stürmte letzten November die deutsche Übersetzung des von Christopher Clark Ende 2012 in englischer Sprache publizierten Werks Die Schlafwandler die Bestsellerlisten und löste Kontroversen aus. Konservative Historiker applaudierten und der Spiegel (24. September 2012) freute sich, weil ein australisch-britischer Historiker attestierte, dass „die Deutschen“ „nicht mehr als andere“ Schuld am Ersten Weltkrieg trügen. Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, dessen 2013 erschienene Gesamtabhandlung des Ersten Weltkriegs „Der große Krieg“ ähnliche Schlussfolgerungen wie Clark zieht, stellte in der Süddeutschen Zeitung (4. Januar) unumwunden klar:
„Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen. Bezogen auf 1914 ist das eine Legende… Wir neigen außenpolitisch zu dem Gedanken: Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht, Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren.“
Es geht also darum, den deutschen Imperialismus ideologisch aufzurüsten und die Akzeptanz für weitere Militäreinsätze in der Welt zu schaffen. In genau die gleiche Kerbe schlug der antikommunistische Bürgerrechtspfaffe Gauck als Bundespräsident bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014, wo er forderte, dass man hinter Deutschlands „historischer Schuld“ nicht „Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit“ verstecken dürfe und dass der deutsche Imperialismus wieder eine größere Rolle international spielen müsse, auch militärisch, was er im Juni erneut unterstrich.
Tatsächlich sind Auslandseinsätze der Bundeswehr inzwischen zur Routine geworden, nachdem sich 1999 die damalige SPD/Grünen-Regierung unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder und Grünen-Außenminister Joschka Fischer an der NATO-Bombardierung des kleinen kapitalistischen Serbiens beteiligte. Gegen massiven Unmut in der Arbeiterklasse führte sie damit die Truppen des deutschen Imperialismus in ihren ersten Kriegseinsatz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Als ideologische Rechtfertigung für ihre blutigen Feldzüge dienen den Imperialisten heutzutage immer wieder „Menschenrechte“ und „Demokratie“. 1999 vergossen sie Krokodilstränen über das „arme, kleine Kosovo“. (Wenn sich die Krim aber nach einem überwältigenden Votum der Bevölkerung Russland anschließt, so ist das für die Imperialisten ein Bruch des Völkerrechts.) Ohne dem Milosevic-Regime die geringste politische Unterstützung zu geben, riefen wir die Arbeiter auf, Serbien militärisch gegen die imperialistischen Angriffe zu verteidigen durch Klassenkampf gegen die kapitalistischen Herrscher im eigenen Land.
In Deutschland mit seiner blutigen Geschichte im Zweiten Weltkrieg wurde die nationalistische Lüge von der „Kollektivschuld“ aller Deutschen an den Verbrechen des Hitlerregimes benutzt, um den Krieg gegen Serbien zu rechtfertigen. Den serbischen Präsidenten Milosevic dämonisierte man zu einem „neuen Hitler“, und Joseph Fischer erklärte: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz“ (7. April 1999). Und so amnestiert diese Lüge nicht nur geschichtlich die deutsche Bourgeoisie von Auschwitz, die Hitler an die Macht brachte, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, Europa unter den deutschen Stiefel zu knechten und den degenerierten Arbeiterstaat Sowjetunion zu zerstören. Sie dient auch als effektives ideologisches Mittel, um Widerstände in der Bevölkerung gegen erneute Feldzüge des deutschen Imperialismus zu überwinden.
In der Zeitschrift Marxistische Erneuerung (17. Juni 2014) gedachte der Historiker Stefan Bollinger, Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei, des Ersten Weltkriegs, um die Druckausübe-Politik der Linkspartei zu rechtfertigen, die sich gerne als „einzige Friedenspartei“ verkauft. Bollinger schildert, wie die SPD noch Tage vor Kriegsausbruch Friedensproklamationen verfasste, um dann aber
„dem Historiker Max Bloch zuzustimmen…: ,Der Bewilligung der Kriegskredite ging also keine – wie vor allem von der Geschichtsschreibung der DDR beschworen – düstere Konspiration, kein Komplott und ,Verrat‘ voraus, sondern sie ist, wie Gerhard A. Ritter bereits 1976 schrieb, im Grunde als Selbstverständlichkeit wahrgenommen worden.‘ Tatsächlich, die klassische Verratsthese erklärt wenig. Es war tatsächlich eine logische Konsequenz aus der Entwicklung einer Partei weg von ihren revolutionären Wurzeln und Ideen hin zu einer Suche nach Klassenausgleich und Kooperation mit der bestehenden Ordnung“.
Es ist ein Ausdruck davon, wie weit das politische Bewusstsein durch die konterrevolutionäre Zerstörung der Sowjetunion 1991/92 zurückgeworfen wurde, dass selbst ABC-Grundkenntnisse des Marxismus wie über den Verrat der SPD von 1914 heute der Verteidigung gegen sogenannte Linke bedürfen. Wie Lenin und Sinowjew in Gegen den Strom analysiert und entwickelt haben, wurde die Sozialdemokratie international zu bürgerlichen Arbeiterparteien, d. h. Parteien mit bürgerlicher Führung und Programm aber ihrer Basis in der Arbeiterklasse. Die materielle Basis dieser Führung war eine dünne besser gestellte Schicht von Arbeiteraristokraten, die mit Hilfe eines Bruchteils der Extraprofite, die die imperialistische Bourgeoisie aus der Superausbeutung ihrer Kolonien zog, bestochen worden war. Die strategische Aufgabe für Revolutionäre bestand nun darin, die Arbeiterbasis von ihrer Führung zu brechen.
Lenin und Sinowjew betonten schon während des Krieges, dass Sozialchauvinismus vollendeter Opportunismus ist, d. h. die „logische Konsequenz“ des Reformismus, wie Bollinger es auszudrücken pflegt. Das ändert aber überhaupt nichts daran, dass das Überlaufen auf die Seite der eigenen Bourgeoisie seitens der Führer der Zweiten Internationale offener Klassenverrat an der internationalen Arbeiterklasse war, deren Interessen die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten vorgab zu vertreten. Bollinger leugnet genau den Klassenwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, wenn er weiter ausführt:
„Diese Verstrickung [der Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft] ging sicher auch weiter als das von Lenin nachdrücklich beschriebene Phänomen der Arbeiteraristokratie als sozialer Basis der Abkehr der Sozialdemokratie von ihren revolutionären Zielen. Klasse wie Partei und Massenorganisationen waren in vielfältiger Weise in das kapitalistische System eingebunden, in den Metropolen manipuliert wie materiell begünstigt, korrumpiert.“
Aber dann hätte auch Kaiser Wilhelm Recht, wenn er keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche. Die Streiks während des Krieges und schließlich die Deutsche Revolution von 1918/19, in der die angeblich „eingebundene“ deutsche Arbeiterklasse versuchte, die Kapitalisten zum Teufel zu jagen, ist die beste Antwort auf diesen reformistischen Müll. Den Verrat des 4. August 1914 herunterspielen dient nur dazu, die SPD-Führung weißzuwaschen und im Falle Bollingers damit auch die heutige Linkspartei-Führung, die den gleichen erbärmlichen Reformismus betreibt wie ihre größere Schwester.
Nachfolgend drucken wir Sinowjews Artikel „Krieg und Frieden“ vom 31. Januar 1917 ab.
* * * * *
Das Jahr 1916 gehört der Vergangenheit an.
– Entsetzlich Jahr! Der Presse täglich Wut,
Das Schlachten, tolle Metzeln der Welt,
Und Mordgeruch und Blut
Hat mich zermartert und zerquält!
Mit diesen Worten gab unser volkstümlicher Dichter N. A. Nekrassow an der Scheide des Jahres 1870/71 dem „schrecklichen Jahr“ des deutsch-französischen Krieges das Geleit.
Und wenn Nekrassow schon den damaligen Krieg charakterisierte als
Gierig Fest des Frevels und der Untat,
Triumph der Bajonette und Kartätschen,
was hätte er dann von diesem Gemetzel gesagt? Wenn der Dichter schon damals wusste, dass
Dies Jahr trägt auch für unsere Enkel
Die Saat der Zwietracht und des Krieges,
was hätte er vom Jahre 1916 gesagt: wieviel neue imperialistische Knoten sind geschürzt, wieviel Samen neuer Kriege sind in diesem „letzten“ Kriege ausgestreut worden – nicht für „unsere Enkel“, sondern für unsere „Kinder“, ja für unsere eigene Generation!? …
Weswegen wird dieser Krieg geführt?
Der hervorragendste Vertreter der unrühmlich umgekommenen II. Internationale, Kautsky, hat 1915 mit ratloser Gebärde auf diese Frage geantwortet:
„Sonst brach ein Krieg aus, weil zwei souveräne Staaten sich über bestimmte Forderungen nicht friedlich verständigen konnten, so dass die Macht der Waffen entscheiden musste… Heute (Ende Februar) geht der Krieg schon in den achten Monat und noch hat keine der kämpfenden Regierungen auch nur im geringsten ahnen lassen, welche Forderungen sie verficht… Sonst formulierten die Staaten zuerst ihre Forderungen, erklärten dann den Krieg und mobilisierten nun. Diesmal wurde nicht die Mobilisierung wegen des Krieges, sondern der Krieg wegen der Mobilisierung erklärt.“ (K. Kautsky, „Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund“, Nürnberg, 1915)
Hilfloses, kindisches Gestammel eines Menschen, der, vom Donner der Ereignisse betäubt, seine Ansichten ganz verloren hat!
Die revolutionären Sozialisten der ganzen Welt wussten nicht erst nach 8 Monaten Krieg, sondern schon lange vorher sehr gut, weswegen der erste alleuropäische imperialistische Krieg geführt werden würde.
Deutschland will sich Kleinasien, Mesopotamien, den belgischen und den französischen Kongo, Niederländisch-Indien, die portugiesischen Kolonien und Marokko aneignen, Deutschland braucht die „Unantastbarkeit“ der Türkei, um dieses Land unter seinem eigenen Joche zu halten, Deutschland will in Polen und im Baltikum alles, was nur irgend möglich ist, an sich reißen. Deutschland muss sich die Linie Berlin – Bagdad sichern.
Frankreich will sich Syrien, einen Teil Kleinasiens sowie die deutschen Besitzungen in Afrika aneignen. Die französischen Imperialisten bemühen sich, „wenigstens“ den Besitz aller alten, seit der Zeit Napoleons III. geraubten Kolonien sicherzustellen.
England will ganz Afrika in einen englischen Weltteil verwandeln, oder wenigstens in Afrika alles, außer den Besitzungen der französischen Imperialisten, einsacken. England bemüht sich, ganz Afrika, vom Kap der Guten Hoffnung bis zu Ägypten, in eine geschlossene englische Besitzung zu verwandeln; um dann von dort aus – über den Suezkanal, Kleinasien, Mesopotamien, Arabien, Persien und Afghanistan endgültig in seine Hände zu bekommen und dieses ganze Territorium mit Britisch-Indien zu vereinigen.
Russland will sich Konstantinopel aneignen, sich zu den Meerengen durcharbeiten, Kleinasien, Persien und die Mongolei in Besitz nehmen, Galizien erdrosseln und dadurch eine wahrhaft russische „Lösung“ der ukrainischen und der polnischen Frage innerhalb des Landes herbeiführen.
Österreich braucht die Ostküste der Adria. Es ist für Österreich von Wichtigkeit, Serbien zu ersticken, sich auf dem Balkan festzusetzen, Italien zu verdrängen, die unterworfenen Nationen innerhalb der Habsburger Monarchie, der der Zerfall droht, durch einen militärischen Sieg auszusöhnen.
Italien will in Afrika Eroberungen machen, um seine Besitzungen in Tripolis zu „ordnen“. Es hofft, in Kleinasien einen Bissen zu ergattern. Es will das Trentino, Triest, Istrien, Dalmatien, Albanien haben.
Belgien führt Krieg wegen Kongo.
Portugal kämpft, um seine Kolonien in Afrika zu behalten.
Deutschland, Frankreich, England, Russland, Japan und die Vereinigten Staaten erachten China als ihre zukünftige Beute.
Serbien, Bulgarien, Rumänien, Griechenland verfolgen auch imperialistische Ziele, aber da sie selbst schwach sind, werden sie zum Spielball in den Händen der älteren imperialistischen Räuber.
Dies sind die Ursachen, die zu dem Schlachten der Jahre 1914–1917 führten, und keineswegs die „Mobilisationsbefehle“.
Die Regierungen der „Großmächte“ haben „nicht einmal angedeutet“, was die wahren Kriegsziele sind! Und wie sollten sie es auch! Man kann doch nicht Millionen Menschen sagen: geht in den Tod, denn wir wollen rauben. Zu dem Zwecke wurde die „Vaterlandsverteidigung“ erfunden.
So war es, und so wird es sein… bis zu der Zeit, – da das Proletariat aller Länder dem kapitalistischen Regime „andeuten“ wird, dass es Zeit sei, sich ins Grab zu legen…
Der imperialistische Krieg ist nach 2½ Jahren eines ungeheuerlichen Blutvergießens bereit, einem imperialistischen Frieden Platz zu machen. Aber auch jetzt verheimlichen die Führer beider Räuberhorden die wirklichen Ziele des Krieges sorgfältig vor „ihren“ Völkern. Wir sind so edel, unsere Ziele sind so erhaben, dass es besser ist … wenn wir vorläufig noch darüber schweigen. Die Wohltaten, mit denen wir die ganze Menschheit beglücken wollen, sind so groß, so unendlich, dass wir uns nicht einmal entschließen können, sie laut zu nennen – damit die Völker vor lauter Glück nicht den Kopf verlieren… So umgehen die Mörder vorsichtig jenen Ort, wo sie ihr letztes Verbrechen begangen haben. So lieben es auch die Henker nicht, mit überflüssiger Ausführlichkeit von ihren Opfern zu sprechen.
Sie können ihre wahren Ziele nicht offen verkünden, diese imperialistischen Metzger! Die wahren Ziele des räuberischen Krieges müssen, koste es, was es wolle, ein Geheimnis für alle Völker, für den unaufgeklärten Pöbel bleiben. Denn wenn morgen die französischen, deutschen, englischen Arbeiter erfahren würden, dass sie zu Hunderttausenden nicht für die „Verteidigung des Vaterlandes“, nicht für „Freiheit und Kultur“ sterben, sondern damit ein Häuflein Kapitalisten sich bereichere, sowie für die Neuteilung der Besitzungen im fernen Afrika, damit die Henkersbande der Großmächte dort eine Reihe schwächerer Völker zu Sklaven machen könne, – wer weiß, ob dann die Arbeiter ihre Waffen nicht gegen „ihre“ Imperialisten kehren würden!
Das ist der Grund, warum die Regierungen aller Länder die dunklen, gemeinen, räuberischen Ziele ihrer Kriege wie eine hässliche Krankheit geheim halten müssen. Und das ist der Grund, dass die beiden Banden sich nur dann dazu entschließen werden, ihre wahren Bedingungen zu verlautbaren, wenn der Kongress der hochgestellten Betrüger, Diplomaten genannt, schon tagen und hinter den Kulissen der Handel in der Hauptsache schon beendet sein wird. Dann wird man auf dem Markte der modernen Sklavenhalter offen anfangen, die Welt zu ändern, die Vaterländer zu zerstückeln, Territorien und Völker auszutauschen so wie Zigeuner Pferde tauschen, und Versuche machen am lebenden Körper der Nationalitäten…
Wer aus dem imperialistischen Krieg noch nichts gelernt hat, dem wird der imperialistische Friede die Augen öffnen. Das Ende krönt das Werk. Wenn der Flitterkram der Worte wegfallen wird, werden alle sehen, dass England seinen „Verbündeten“ Portugal ins Feuer schickte, weil es im Geheimen darauf rechnete, schlimmstenfalls sich gemeinsam mit Deutschland an den portugiesischen Kolonien schadlos zu halten, und dass Russland, als es Rumänien in den Krieg hineinhetzte, den Plan hegte, falls Deutschland „annehmbare“ Bedingungen stellen sollte, zur Teilung Rumäniens zu schreiten.
Dass hinter den Kulissen schon längst geheime Verhandlungen geführt werden, darüber kann kein Zweifel bestehen. Wir können nicht wissen, wie weit die Abmachungen schon gediehen sind. Wenn nichts „Unvorhergesehenes“ dazwischen kommt, kann das Morden noch ein Jahr und länger dauern. Die imperialistischen Händler kommen zusammen und gehen wieder auseinander, verpflichten sich gegenseitig, schwören und beteuern, dass die Sache ihnen selbst „teuer zu stehen kommt“, schicken neue Makler und erklären, dass sie bereit sind, zu handeln … andernfalls aber „jusqu’au bout“ kämpfen werden. Jede der Koalitionen spricht in wenig schmeichelhaften Ausdrücken von der anderen, sie behandeln einander wie niederträchtige Beutejäger, Straßenräuber, die nur das Recht des Stärkeren kennen, und zwar beiderseits mit vollem Recht. Das Handeln und Feilschen hinter den Kulissen wird währenddessen aber auch nicht auf eine Minute eingestellt.
Wer weiß zum Beispiel, ob die Ausrufung des „freien“ Polens durch Wilhelm II. nicht einfach eine Episode bei der Ausarbeitung eines Sonderfriedens zwischen den deutschen und den russischen Imperialisten war? Wer weiß, ob die „Autonomie“ Polens bis zu einem gewissen Grade nicht mit Zustimmung der zarischen Bande proklamiert worden ist? Nikolaus II. und seine Helfershelfer müssen ja die „öffentliche Meinung“ auf den unvermeidlichen Verlust dieser oder jener Gebiete zugunsten Deutschlands vorbereiten. Und wer sieht es denn nicht, dass durch diesen Schritt Wilhelms der Boden schon besser vorbereitet ist, als dies bis zur Proklamierung der polnischen „Freiheit“ der Fall war? Der räuberische Krieg kann nicht anders enden als mit einem räuberischen Frieden. Wer will dafür stehen, dass, sagen wir ein Teil von Französisch-Marokko nicht gegen Saloniki eingetauscht wird, dass Persien nicht für Polen zahlen wird, dass die portugiesischen Kolonien nicht für Belgien herhalten müssen, dass Belgisch-Kongo nicht als Kompensation für diese oder jene „Zugeständnisse“ an die englischen und russischen Imperialisten in der türkischen Frage dienen werden? Auf den ersten Blick erscheinen solche Kombinationen unerwartet und paradox. In der Tat sind sie aber sehr wahrscheinlich, da sie sich aus der ganzen Politik des Imperialismus ergeben.
Hören wir, was z. B. die österreichischen Imperialisten sagen! In ihrem Blatte, der „österreichischen Rundschau“, die unter nächster Mitwirkung des in Sarajewo ermordeten Franz Ferdinand gegründet wurde, erschien unlängst ein Leitartikel unter dem Titel: „Der große Krieg und die Teilung der Welt“. Der Autor (Bertold Molden) behandelt die Frage mit ungewohnter Offenheit. Die Großmächte teilen die Welt untereinander. Die „Teilung“ hat schon lange vor dem Kriege begonnen. Der „große“ Krieg ist nur eine Episode in „der Entwicklung dieser Teilungsoperation“. Die Teilung wird auf diese oder jene Art fortgesetzt werden. Die ganze Frage besteht nur darin, wessen Chancen sich durch den Krieg gebessert oder verschlechtert haben werden. Gekämpft wird hauptsächlich um 1. die Türkei, 2. die afrikanischen Kolonien, 3. Ostasien. Das Ergebnis des Krieges ist im gegebenen Augenblick folgendes: „Auf einem der wichtigsten Kriegsschauplätze – in Ostasien – hat der Krieg die Frage der Teilung der Welt zugunsten der Ententestaaten entschieden. Im Nahen Osten zieht sich die Teilung infolge des Krieges in die Länge. Die Frage ist nur insoweit nicht entschieden, als es sich um Amerika handelt“ (S. 247.) … „Deutschland will Belgien zurückgeben. England wird aber Belgien opfern, um seinerseits nicht genötigt zu sein, mit dem Gegner abzurechnen, d. h. Deutschland seine afrikanischen Kolonien zurückzugeben.“ (S. 246.)
Wahrhaftig, in diesen Worten des österreichischen Imperialisten steckt mehr Sinn als in den letzten pazifistischen Artikeln Kautskys, in denen dieser gewesene Theoretiker des Marxismus zum 1001sten Mal „beweist“, dass die Kolonien im Grunde genommen gar nicht nötig und für die Imperialisten selbst unvorteilhaft seien! …
Der deutsche Imperialismus erdrosselt Belgien und Polen unmittelbar. Aber indirekt werden Belgien und Polen auch von den englischen Imperialisten erdrosselt, die sich auf Kosten der deutschen Kolonien bereichern wollen, sei es auch auf Kosten der Verlängerung der Qualen des „heroischen“ Belgien und des „edlen“ Polen …
Die Minister des russischen Zaren schreien jetzt an allen Straßenecken, dass „wir“ für Konstantinopel kämpfen, dass alle Verbündeten „uns“ Konstantinopel versprochen hätten. Das schreien sie so laut, weil es jetzt schon klar ist, dass Russland in diesem Kriege Konstantinopel nicht erhalten wird, wenigstens – nicht aus den Händen der Entente. England hat dem Zaren Konstantinopel versprochen. Aber England hat es „uns“ auch vor dem Krimkriege versprochen, was es dann nicht daran hinderte, sich als Hauptgegner Russlands zu entpuppen. Jetzt ist es schon klar: der Zarismus wird auch noch im nächsten Kriege um Konstantinopel kämpfen müssen, wenn bis dahin die russische Revolution den Zarismus nicht hinweggefegt haben wird.
Mit der Perspektive der Eroberung Konstantinopels und der Meerengen hat der Zarismus bedeutende Schichten der russischen Bourgeoisie an sich gefesselt. Konstantinopel lockte seine papierenen „Patrioten“ von den ersten Jahren der Gegenrevolution an. Im Laufe einer Reihe von Jahren hat die russische Bourgeoisie dem Zarismus geholfen, sich auf den jetzigen „Verteidigungskrieg“ vorzubereiten. Miljukow hat diese Tatsache anerkannt, als er in seiner „historischen“ Rede vom 1. November 1916 in der Duma sagte: „Meine Herren, denken Sie daran, dass die Grundlagen zu der jetzigen internationalen Konjunktur schon seit dem Jahre 1907 gelegt wurden … (Hören Sie, Herr Plechanow!) … Nur auf dem Boden des völligen Vertrauens zueinander konnte das Übereinkommen über Konstantinopel und die Meerengen unterzeichnet werden. Es hatte schon den Anschein, dass Russland die Früchte seiner langen Mühen und die Früchte der Arbeit zweier Außenminister in dieser Periode ernten werde, als sich die ungewöhnliche, seltene, in der Politik vielleicht einzige Konjunktur ergab, deren Beginn durch die Wirksamkeit König Eduard VII. bezeichnet ist.“ Ja, das Glück war so nahe, so wahrscheinlich. Aber das reale Ziel dieses Krieges ist für die zarische Diplomatie schon nicht mehr Konstantinopel. In diesem Kriege wird der Zarismus sich damit abfinden müssen, dass, nachdem er Polen und vielleicht einen Teil des Baltikums verloren haben wird, er sich in Galizien, Armenien, Persien und Rumänien schadlos halten wird. Das russische Diplomatenkorps, das schon von Engels „Jesuitenorden“ getauft wurde, bemüht sich aalglatt, zu einem Bündnisse mit Deutschland gegen England zu gelangen. Die Möglichkeit eines neuen Bündnisses des zarischen Russland mit dem Deutschland der Junker war schon seit dem ersten Tage des Krieges im Keime vorhanden. Dem widerspricht die Tatsache, dass die Freunde zuerst beschlossen haben, ihre Kräfte zu messen, durchaus nicht. Ging denn dem Bündnisse zwischen Russland und Japan nicht auch ein Krieg voraus? Und gingen denn dem Bündnisse zwischen England und Frankreich nicht eine Reihe von Kriegen und lange Jahre des Wettstreites voraus? Die französischen Arbeiter sterben jetzt schon nicht mehr, um dem Zaren die Herrschaft über Konstantinopel zu verschaffen, sondern um dem Zaren zu helfen, sich bessere Bedingungen für sein zukünftiges (oder jetziges) Bündnis mit Wilhelm II. zu erhandeln. Die französischen Arbeiter sterben schon nicht mehr, um der russischen Bourgeoisie zu helfen, sich im Nahen Osten festzusetzen, sondern, um die Hoffnungen der russischen Bourgeoisie auf Konstantinopel aufrecht zu erhalten, ihre Opposition zu brechen und sie in die Umarmungen der Zarenbande zu treiben.
Und Amerika! Und der große „Pazifist“ Wilson!
Der begabteste unter den sozialistischen Opportunisten, Jaurès, der in seiner Person eine deutliche Synthese eines bürgerlichen und eines „sozialistischen“ Pazifisten bietet, sagte in einer am 20. Dezember 1911 gehaltenen Parlamentsrede:
„Es gibt drei Kräfte …, die zugunsten des Friedens arbeiten. Die erste ist die internationale Organisation der Arbeiterklasse … Der zweite Friedensfaktor ist der Kapitalismus der Gegenwart (gemeint ist die ominöse Idee Norman Angells über die Interessensolidarität des internationalen Finanzkapitals). Es gibt noch eine dritte pazifistische Kraft, und das ist die Wiedergeburt des angelsächsischen Amerika, des alten Ideals der Puritaner … Die integre Arbitrage zwischen den Vereinigten Staaten und England, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan fängt an, Wirklichkeit zu werden … Wenn Europa morgen so wahnsinnig sein sollte, uneinig zu sein, wenn ein Teil Europas gegen den anderen Teil gehen sollte, so würde der große amerikanische Idealismus Euch beschämen, indem er die Arbitrage vorschlüge“ („La Protestation du droit“, S. 42–46).
Wie böse hat das Leben diesen pazifistischen Utopien der „Realpolitiker“ des Opportunismus mitgespielt! Schon im Jahre 1911, als Jaurès vor der Deputiertenkammer diese Rede hielt, musste der bürgerliche Abgeordnete Bouger den Sozialisten Jaurès an Kuba erinnern. „Erzählen Sie uns lieber, wie Amerika sich im Kubanischen Kriege verhielt“ – rief dieser Bourgeois ihm zu. Darauf fand Jaurès nur die Antwort: „Habe ich denn gesagt, dass die Heiligen niemals sündigen?“
– Erzählen Sie uns lieber vom amerikanischen „Idealismus“ während des Krieges von 1914–1917 – könnte man den „sozialistischen Pazifisten“ der ganzen Welt zurufen. „Das alte Ideal der Puritaner“ hat mit den Sozialpazifisten ein böses Spiel getrieben. Oh! der „amerikanische Idealismus“ hat das bessere Teil erwählt: er hat es vorgezogen, Europa nicht zu „beschämen“, sondern – ihm für gutes Geld alles, was ein Mensch zur erfolgreichen Ausrottung von Seinesgleichen nötig hat, zu liefern. Die regierenden Kreise Amerikas mischten sich nicht in die Angelegenheiten Europas mit einem Vorschlage der Arbitrage ein, da die amerikanischen Imperialisten im Gegensatz zu den Sozialpazifisten ausgezeichnet wissen, dass internationale Schiedsgerichte – wie der deutsche Imperialist Rüdorffer sich ausdrückte – „nur dazu da sind, um solche Kriege zu vermeiden, die wir nicht wollen“. Die Vertreter des „amerikanischen Idealismus“ traten erst dann mit dem Vorschlage hervor, den Boden für Friedensbedingungen zu sondieren, als sie aus Europa schon riesige Milliardengewinne gezogen hatten, erst dann, als die Aussicht auf neue Gewinne geringer wurde und als das Wachsen der Teuerung in Amerika selbst, die deutschen Unterseeboote und die maßlose Kräftigung Japans die amerikanischen Imperialisten zwangen, darüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit wäre, dem ersten alleuropäischen Kriege ein Ende zu machen.
Man muss durchhalten, da dieser Krieg der letzte Krieg sein wird – rufen die nationalchauvinistischen „Champions des Rechtes“.
„Dies ist der letzte Krieg, an dem die Vereinigten Staaten noch nicht teilzunehmen brauchten“ – bemerkt der „Pazifist“ Wilson kaltblütig in einer seiner letzten Reden. –
„Das edle Frankreich kämpft um Recht und Freiheit, für die Prinzipien der großen Revolution, für die Ideale der Menschheit“ – rufen Plechanow und Konsorten.
„Ja, meine Herren Franzosen, Sie werden sich mit England in die deutschen Kolonien in Afrika teilen, und im nächsten Kriege werden Sie dann über eine bedeutend größere Menge schwarzer Truppen verfügen“, eifert Wassiljew, Mitglied des Staatsrates, die französischen „Sozialisten“ und Radikalen an (siehe die Wiedergabe seines Gespräches mit den französischen Deputierten im Blatte der Pariser Metallarbeiter).
Die Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten lassen eine kleine „Ungenauigkeit“ zu: anstatt über den ersten europäischen ungerechten Krieg zu sprechen, reden sie vom letzten „gerechten“ Weltkriege. Man kann sich kein ungeheuerlicheres Verbrechen den Volksmassen gegenüber vorstellen…
Noch niemals war der Fall der offiziellen „Sozialdemokratie“ so klar, niemals war die tief reaktionäre Rolle des Sozialchauvinismus so offensichtlich wie gerade jetzt, wo der Krieg seinen Kulminationspunkt erreicht hat. In den breiten Schichten des Proletariates aller Länder reift die revolutionäre Unzufriedenheit. Nach 2½ Jahren unerhörten Blutvergießens drängt sich der einfache, aber äußerst wichtige Gedanke dem Bewusstsein auch der zurückgebliebensten Arbeiter auf: wir kämpfen für die Kapitalisten, wir sterben zu Hunderttausenden, wir schießen aufeinander für die Interessen einer kleinen Anzahl unserer Unterdrücker. Die Bewegung entwickelt sich in einem viel langsameren Tempo, als wir dies wünschen. Aber – sie entwickelt sich, trotz der Unmenge unvorhergesehener Hindernisse. Überall hungert das Volk. Es gibt keine Arbeiterfamilie, aus deren Mitte das „verfluchte Morden“ nicht wenigstens ein, ja oft auch mehrere Mitglieder hinweggerafft hätte. Man fängt selbst dort an, den Krieg zu verfluchen, wo man ihn früher segnete. Es ist nicht länger zum Aushalten. Der Schrei der Empörung will aus vielen hunderttausend Kehlen brechen.
Aber – „sie“ sind noch nicht handelseinig, „sie“ haben ihre „Kriegsziele“ noch nicht verwirklicht. Jeder kleine militärische Erfolg belebt die Hoffnungen auf einen „vollen“ Erfolg. Nur noch wenigstens einige Monate „durchhalten“, nur ja das Morden „bis zum Ende“ durchführen! Und in diesem Augenblicke beginnt dann das Spiel der „Noten“. Jede der Räuberbanden muss, koste es, was es wolle, „ihrem“ Volke beweisen, dass sie von ganzer Seele für den Frieden sei, und dass nur der hinterlistige Feind den Krieg mit allen Mitteln zu verlängern suche.
Der aufrichtige Bourgeois, Herr Lensch, erklärte im Blatte des früheren Sozialisten Parvus mit ungewöhnlichem Zynismus die Motive der „Friedensliebe“ der Zentralmächte. In einem Artikel, der der bekannten Note des austro-deutschen Blocks gewidmet ist, schreibt er:
„Wir wissen sehr gut, und die kaiserliche Regierung weiß das ebenso gut wie wir, dass die Munition allein es nicht tut. Die moralischen Faktoren spielen eine viel größere Rolle. Nichts ist von so großem Einflusse, nichts ist so geeignet, die Reihen zu festigen, wie die Überzeugung, dass dieser Krieg ein Verteidigungskrieg, ein Kampf auf Leben und Tod ist. Durch ihre Friedensnote haben die Zentralmächte diese Überzeugung ihrer Völker gefestigt. Dadurch haben sie sich im Verhältnisse zu den Ententestaaten ein großes moralisches Plus geschaffen.“
Und die Herren Lensch, Scheidemann, Legien und Konsorten bemühten sich natürlich im Schweiße ihres Angesichtes, dieses „moralische Plus“ der deutschen Imperialisten, die einen „Verteidigungskrieg“ führen, zu vergrößern. Genau wie die Sozialchauvinisten der Entente nach Kräften unter ihren Völkern die unerhört freche Note der anderen imperialistischen Bande verteidigen, die anlässlich des „Verteidigungskrieges“ auch noch ein bis zwei Millionen „ihrer“ Arbeiter im Kampfe für das „endgültige“ räuberische Ziel festlegen will.
Auf Kommando ihrer Regierung riefen die Sozialchauvinisten: es lebe der imperialistische Krieg! Auf Kommando ihrer Regierung rufen sie jetzt: es lebe der imperialistische Friede! Die Lage der Zentralmächte auf dem Kriegstheater ist jetzt eine solche, dass es für sie vorteilhaft ist, Friedensvorschläge zu machen. Die pazifistische Zungenverdrehung ist jetzt für die deutsche Regierung augenscheinlich vorteilhaft. Der kluge deutsche Konservative Delbrück hat jetzt einen programmatischen Aufsatz über den „realpolitischen Pazifismus“ veröffentlicht, den er mit den Worten schließt: „Warum sollten wir es jetzt nicht versuchen, den Weg des Pazifismus zu beschreiten“. Deshalb ist es jetzt selbst in Wien den Austerlitz, Leithner und Renner gestattet worden, Versammlungen abzuhalten und den Frieden zu predigen, um das „moralische Plus“ der blutbefleckten österreichischen Monarchisten zu vermehren. Morgen wird auch Briand finden, dass auch für Frankreich der Augenblick dazu gekommen sei, und wird bei seinen Handlangern, den Renaudel und Vandervelde, einige Dutzend sozialistische Friedensmeetings bestellen. Dann wird von Briands und Bethmanns Gnaden auch die sozialchauvinistische „Internationale“ wieder aufgerichtet werden.
Revolution des Proletariates – oder eine Reihe neuer imperialistischer Kriege, ein neues Blutmeer, neue Millionen Opfer. So hat die Geschichte für alle vorgeschrittenen Länder die Frage gestellt. Demokratische Revolution und engste Verbindung mit der revolutionären Bewegung des sozialistischen Proletariates im Westen, oder – eine Reihe neuer imperialistischer Kriege unter dem Kommando der Romanow, Rasputin, Manuilow, Protopopow, Mjassojedow, Stürmer. So hat die Weltgeschichte die Frage für unser Land gestellt.
Das Herz blutet einem, wenn man daran denkt, dass sich auch unter den russischen Arbeitern und Bauern solche finden, die an das Märchen vom „gerechten“ Kriege, vom „gerechten“ Zaren glauben. Kurz vor der Abschaffung der Leibeigenschaft rief Herzen den leibeigenen russischen Bauern zu: „Oh, wenn doch meine Worte dich erreichen könnten, du Arbeiter und Märtyrer der russischen Erde! … Wie würde ich dich lehren, deine Seelenhirten zu verachten, die der Petersburger Synod und der deutsche Zar über dich eingesetzt haben… Du hassest den Gutsbesitzer und den Gendarmen, fürchtest sie, – und du hast recht; aber du glaubst noch an den Zaren und den Priester… Glaube ihnen nicht. Der Zar ist für sie, und sie für ihn“ … Von den Söhnen und Enkeln dieser leibeigenen russischen Bauern hängt jetzt das Geschick unserer Heimat ab. Oh, wenn das Wort der Wahrheit, – der Wahrheit über den Krieg, der Wahrheit über den Zaren, der Wahrheit über die eigennützige Bourgeoisie – doch endlich in das verlorene, unter Schnee begrabene russische Dorf dringen wollte! Oh, wenn dies Wort der Wahrheit doch endlich in das Herz der russischen Armee, die in ihrer ungeheuren Mehrheit aus Bauern besteht, dringen wollte! Dann wird die heroische Arbeiterklasse Russlands, gestützt auf die Teilnahme der armen Bauernschaft, unser Land endlich von der Schande der Monarchie befreien, und es mit fester, sicherer Hand zum Bündnisse mit den sozialistischen Proletariern aller Länder führen.
Möge der kommende imperialistische Friede jenen, denen der imperialistische Krieg die Augen noch nicht geöffnet hatte, nun die Augen öffnen.
Die Revolution in Russland reift heran. Die Revolution in Russland wäre der ernsteste Schlag für den jetzigen imperialistischen Krieg. Auf die sich in Russland vorbereitenden revolutionären Schlachten heftet sich die Aufmerksamkeit aller Sozialisten, die ihr Banner dem Feinde nicht preisgegeben haben.
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