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Spartakist Nummer 209

August 2015

Frauen und Revolution

Der marxistische Weg zur Frauenbefreiung

Kommunismus und die Familie

Folgender Artikel erschien zuerst in Workers Vanguard, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S. (Nr. 1068 und Nr. 1069, 15. und 29. Mai).

In dem Dokument Grundsatzerklärung und einige Elemente des Programms stellt die Internationale Kommunistische Liga (Vierte Internationalisten) unsere Aufgabe dar, „leninistische Parteien aufzubauen als nationale Sektionen einer demokratisch-zentralistischen Internationale, deren Zweck es ist, die Arbeiterklasse durch sozialistische Revolutionen auf der ganzen Welt zum Sieg zu führen“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 20, Sommer 1998). Das Proletariat kann nur durch seine Machtergreifung dem kapitalistischen System ein Ende bereiten und den Weg zu einer Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung frei machen. Für diese Perspektive ist der Kampf zur Befreiung der Frauen von wesentlicher Bedeutung, denn ihre Unterdrückung reicht bis zu den Anfängen des Privateigentums zurück und kann nur durch die Abschaffung der Klassengesellschaft beseitigt werden.

In der Grundsatzerklärung erklären wir, dass unser Ziel letztendlich die Schaffung einer neuen, kommunistischen Gesellschaft ist:

„[D]er weltweite Sieg des Proletariats [würde] einen bisher unvorstellbaren materiellen Überfluss in den Dienst der Bedürfnisse der Menschheit stellen, die Grundlagen für die Abschaffung der Klassen und für die auf Geschlecht basierende soziale Ungleichheit legen und die gesellschaftliche Bedeutung von Hautfarbe, Nation oder ethnischem Ursprung völlig aufheben. Zum ersten Mal wird die Menschheit die Zügel der Geschichte ergreifen und ihre eigene Schöpfung, die Gesellschaft, kontrollieren, was zu einer bisher nie erträumten Emanzipation des Potenzials der Menschen und einem gewaltigen Aufschwung der Zivilisation führen wird. Erst dann wird es möglich sein, die freie Entwicklung eines jeden als Vorbedingung zur freien Entwicklung von allen zu verwirklichen.“

Früher konnte man davon ausgehen, dass die meisten selbsternannten marxistischen Tendenzen das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft hatten, auch wenn sie sonst nicht viel miteinander gemeinsam hatten. Aber seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991/92 ist das nicht mehr der Fall. Allein die IKL hält an der Perspektive des Weltkommunismus fest, wie sie ursprünglich von Karl Marx und Friedrich Engels aufgezeigt wurde.

Dieses ideologische Klima vom „Tod des Kommunismus“ hat dazu geführt, dass falsche und beschränkte Vorstellungen über Marxismus vorherrschen. Im Bewusstsein der Bevölkerung ist Kommunismus auf ökonomische Gleichmacherei reduziert (Gleichheit bei niedrigem Einkommens- und Konsumniveau), wobei die ökonomischen Ressourcen dem Staat gehören. Im Gegenteil, die materielle Basis für die Verwirklichung des marxistischen Programms ist die Überwindung des wirtschaftlichen Mangels durch einen zunehmenden Anstieg der Arbeitsproduktivität. Damit dies voll umgesetzt werden kann, wird eine sozialistische Entwicklung auf der Grundlage der weltweit vergesellschafteten Wirtschaft mehrere Generationen brauchen. So würde sich eine Gesellschaft entwickeln, wo der Staat (ein besonderer Zwangsapparat zur Verteidigung der Klassenherrschaft durch bewaffnete Formationen von Menschen) abgestorben ist, die nationale Zugehörigkeit verschwunden ist und die Institution Familie – Hauptquelle der Frauenunterdrückung – durch kollektive Maßnahmen der Betreuung und Sozialisierung der Kinder und durch die vollste Freiheit sexueller Beziehungen ersetzt wurde.

Marxismus und „menschliche Natur“

In der Vergangenheit wussten Intellektuelle, die eine solche Gesellschaft für nicht erstrebenswert und/oder für nicht möglich hielten, dennoch, dass Marxisten genau das mit Kommunismus meinten. Zum Beispiel präsentierte Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur (1930), einer populären Darstellung seiner Weltsicht, eine kurze Kritik am Kommunismus. Es gibt keinen Beleg, dass er je die Werke von Marx und Engels studiert oder die von W. I. Lenin und anderen führenden Bolschewiki gelesen hat. Sein Verständnis (und Missverständnis) vom Kommunismus entsprach dem, was damals viele europäische und amerikanische Intellektuelle dachten, egal wie ihre politische Ausrichtung war.

Freud stützte seine Kritik am Kommunismus auf seine Ansicht, dass der Mensch „zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf“. Er schlussfolgerte, dass das kommunistische Projekt einer harmonischen Gesellschaft der menschlichen Natur zuwiderliefe:

„Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiss ein starkes und gewiss nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluss, welche die Aggression für ihre Absichten missbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht…

Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so lässt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, dass der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.“

Freud hat richtig verstanden, dass nach kommunistischer Vorstellung in einer zukünftigen Gesellschaft die Familie allmählich verschwunden ist und sich eine „völlige Befreiung des Sexuallebens“ durchsetzt. Freud lag mit seiner Auffassung insofern falsch, als Marxisten sehr wohl wissen, dass die Familie nicht einfach abgeschafft werden kann; ihre notwendigen Funktionen, insbesondere die nächste Generation großzuziehen, müssen durch vergesellschaftete Maßnahmen der Kinderbetreuung und Hausarbeit ersetzt werden.

Zwar gilt Freud heute nicht mehr als die ideologische Autorität wie früher, aber die Vorstellung, die „menschliche Natur“ mache eine kommunistische Welt unmöglich, ist immer noch verbreitet, auch wenn die jeweiligen Argumente sich unterscheiden mögen. Dagegen vertreten Marxisten die Auffassung, dass es der materielle Mangel ist, der zu grausamen Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen führt. Genau deshalb ist Kommunismus nur vorstellbar bei einem noch nie dagewesenen materiellen Überfluss, mit dem eine enorme Hebung des kulturellen Niveaus in der Gesellschaft einhergeht. Durch die Existenz von Klassen, heute in Gestalt der veralteten kapitalistisch-imperialistischen Ordnung, wird die menschliche Gesellschaft mit Brutalität und Gewalt verseucht. Wie der marxistische Autor Isaac Deutscher in „Die sozialistische Konzeption vom Menschen“ (1966) schrieb, ist „ ,homo homini lupus‘ [der Mensch ist dem Menschen ein Wolf] der Schlachtruf gegen Fortschritt und Sozialismus“ für diejenigen, „die mit dem Buhmann der ewigen menschlichen Wolfsnatur im Interesse des realen, blutrünstigen imperialistischen Wolfes operieren“.

Freud selbst identifizierte „angeborene Aggression“ in sexuellen Beziehungen als das Problem der menschlichen Natur. Was sagt man dazu! Für die soziale Pathologie, die damit zusammenhängt, was Freud als sexuelle Rivalität ansah, gibt es in einer völlig freien Gesellschaft des gemeinschaftlichen Zusammenlebens keine Existenzgrundlage mehr, denn dann ist das Sexualleben nicht mehr abhängig davon, wie man an Nahrung, Unterkunft, Ausbildung, zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und an alltägliche Annehmlichkeiten gelangt. Wenn die Familie ebenso wie die Klassen und der Staat abgestorben ist, wird die gemeinschaftliche Erziehung, die sie ersetzt, eine neue Psychologie und Kultur unter den Menschen hervorbringen, die unter diesen Bedingungen aufwachsen. Patriarchalische soziale Werte – „meine“ Frau, „meine“ Kinder – werden gemeinsam mit dem Unterdrückersystem, das sie erzeugte, verschwinden. Die Beziehung der Kinder untereinander und zu den Personen, die sie unterrichten und anleiten, wird viele Facetten haben, wird komplex und dynamisch sein. Durch die Institution Familie werden Sex und Liebe ans Eigentum gekoppelt, und dabei wird alles außer der Zwangsjacke heterosexueller Monogamie als „Sünde“ gebrandmarkt.

Die Familie unter dem Kapitalismus ist der Hauptmechanismus für die Unterdrückung der Frauen und Jugendlichen und ist durch unzählige Verbindungen mit den grundlegenden Funktionsweisen der „freien Markt“wirtschaft vernetzt. Familie, Staat und organisierte Religion sind die drei Pfeiler der Unterdrückung zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung. In Ländern der Dritten Welt bringen tief verwurzelte Armut und Rückständigkeit, gefördert durch imperialistische Vorherrschaft, widerlich unterdrückerische Bräuche hervor wie den Schleier, den Brautpreis und die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen.

In fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften wie den USA sieht es vielleicht so aus, als ob das chaotische Leben der Menschen eher den TV-Serien Modern Family oder Transparent ähnelt als der Sitcom Vater ist der Beste aus den 50er-Jahren. Aber die persönlichen Entscheidungen der Menschen sind eingeengt durch die Gesetze, die Wirtschaftslage und die Vorurteile der Klassengesellschaft; das gilt besonders für die Arbeiterklasse und die Armen. Die Familie durch kollektive Institutionen zu ersetzen ist der radikalste Aspekt des kommunistischen Programms und wird zutiefst umwälzende Veränderungen im täglichen Leben mit sich bringen, nicht zuletzt für die Kinder.

Unsere linken Opponenten und die Anti-Sex-Hexenjagd

Diese Vision von einer Gesellschaft ohne die unterdrückerische Institution Familie lässt sich heutzutage bei der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die den Anspruch haben, für Marxismus, Sozialismus und Frauenbefreiung einzutreten, nicht mehr finden. Für die Stalinisten bedeutete das anti-marxistische Dogma vom „Sozialismus in einem Land“, schon vor vielen Jahrzehnten das Verständnis aufgegeben zu haben, dass eine weltweite sozialistische Gesellschaft notwendig ist, um die volle Befreiung des Menschen, einschließlich der Frauen, zu erreichen; eine Konsequenz daraus war, dass die Stalinisten die unterdrückerische Familie als „sozialistische“ Keimzelle rehabilitierten. In unserem Artikel „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 25, Frühjahr 2006) gingen wir ausführlich darauf ein.

Andere angebliche Marxisten von heute, einige davon mit dem Anspruch Trotzkisten zu sein, schließen sich einfach der liberalen (bürgerlichen) feministischen Doktrin an, wenn sie die Frage der Frauenbefreiung aufgreifen, und halten damit an den Institutionen von Familie und kapitalistischem Staat fest. So hassen diese Leute die Spartacist League/U.S. und die IKL deshalb, weil wir die Rechte der North American Man/Boy Love Association (NAMBLA – Nordamerikanische Vereinigung für die Liebe zwischen Männern/Jungen) verteidigen, die für die Legalisierung von einvernehmlichem Sex zwischen Männern und Jungen eintritt, und auch andere verteidigen, die wegen eines solchen sexuellen „Fehlverhaltens“ verfolgt werden. Die IKL ist immer konsequent gegen die Einmischung des Staates in das Privatleben eingetreten und fordert die Abschaffung aller Gesetze, die einvernehmliche Handlungen als Verbrechen behandeln, obwohl es keine Opfer gibt („crimes without victims“) – z. B. Prostitution, Drogenkonsum und Pornografie.

Das Geschrei, das viele Linke und Feministen gegen NAMBLA erheben, ist ein Ausdruck der von bürgerlichen Politikern und ihren Gelehrten massiv propagierten „Familienwerte“. Seit Jahrzehnten rollt eine vom Staat geförderte Anti-Sex-Kampagne, die vielerlei Formen annimmt: Hetze gegen Schwule, Hexenjagd gegen Erzieher in Kitas, Verbot der Verbreitung von Verhütungsmitteln und der Aufklärung von Teenagern sowie das Einsperren von „Andersartigen“. Im Zusammenhang mit diesen reaktionären Angriffen kam es auch zu nichtstaatlichem Terror wie zu den Bombenanschlägen auf Abtreibungskliniken. Zum großen Teil zielt diese Verfolgung darauf ab, den bürgerlichen Staat bei seiner Reglementierung der Bevölkerung zu stärken und Panik zu säen als Ablenkung von der realen Brutalität des Lebens in dieser kranken, bösartigen, fanatisch bornierten, rassistischen Gesellschaft.

In früheren Artikeln haben wir einige sexuelle Grauzonen in dieser Gesellschaft untersucht, in der Klassenunterschiede sowie sexuelle und Rassenunterdrückung Schäden hervorrufen, die zu großem persönlichen Schmerz und zu Abscheulichkeiten führen können. Wir haben erklärt, dass der Missbrauch von Kindern ein bösartiges und schreckliches Verbrechen ist, dass aber viele illegale sexuelle Kontakte völlig einvernehmlich sind und per se keinerlei Schaden mit sich bringen. Da aber absichtlich alles – von Schmusereien unter Geschwistern bis zur abscheulichen Vergewaltigung eines Kleinkinds durch einen Erwachsenen – in einen Topf geworfen wird, wird ein gesellschaftliches Klima geschaffen, bei dem diejenigen, die wirkliche Verbrechen gegen Kinder begehen, oft frei ausgehen. Wir haben darauf hingewiesen, dass die sexuellen Neigungen einer in Gemeinschaften lebenden Säugetier-Spezies wie dem Homo Sapiens offenkundig nicht darauf ausgerichtet sind, der rigiden heterosexuellen Monogamie zu entsprechen, die von der bürgerlichen Moral vorgeschrieben wird.

Als minimale Verteidigungsmaßnahme gegen staatliche Verfolgung Jugendlicher, die Sex haben wollen (oder einfach nur „sext“, Austausch von erregenden Texten oder Bildern), treten wir gegen die reaktionären „Minderjährigkeits“gesetze ein, mit denen der Staat ein willkürliches Alter festlegt, ab dem Sex erst erlaubt ist – wobei sich das durch diese Gesetze festgelegte Alter im Laufe der Jahre ändert und von Staat zu Staat unterschiedlich ist.

Wenn wir solche Fragen ansprechen, gehen wir zuallererst davon aus, dass wir gegen den kapitalistischen Staat sind bei all seinen Bemühungen, die ausbeuterische kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Dies ist Ausdruck unseres Ziels – angewendet auf die heutigen Bedingungen: völlige sexuelle Freiheit für alle in einer kommunistischen Zukunft, auch für Kinder und Teenager. Es ist besonders wichtig für junge Erwachsene, von denen heute erwartet wird, dass sie sich noch Jahre nach Erreichung der Pubertät in erstickender Abhängigkeit von den Eltern befinden. Wir fordern volle finanzielle Unterstützung für alle Auszubildenden/Studenten, so dass Jugendliche wirklich unabhängig von ihren Familien leben können; das ist Teil unseres Programms für kostenlose hochwertige Bildung für alle.

In scharfem Gegensatz dazu weigert sich die International Socialist Organization in den USA (ISO), die Abschaffung der bestehenden Minderjährigkeitsgesetze zu fordern. In einem Artikel mit der Überschrift „Jugend, Sexualität und die Linke“ drosch Sherry Wolf, die ein führendes ISO-Mitglied ist, auf den NAMBLA-Unterstützer David Thorstad ein: Er sei „in der Linken der lautstärkste, langjährigste Verteidiger von Päderastie“ (socialistworker.org, 2. März 2010). Sie zitierte aus ihrem Buch Sexuality and Socialism: History, Politics and Theory of LGBT Liberation [Sexualität und Sozialismus: Geschichte, Politik und Theorie der Befreiung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen] (Haymarket Books, 2009): „Von Seiten des Kindes kann es gegenüber einem Mann von 30 keine Einvernehmlichkeit geben, bei der die ungleiche Macht keine Rolle spielt.“ Weiter heißt es in Wolfs Artikel: „In unserer Gesellschaft treffen Erwachsene und Kinder nicht als emotional, physisch, sozial oder wirtschaftlich Gleiche aufeinander. Kinder und junge Teenager haben weder die Reife noch die Erfahrung oder Macht, um über ihre Beziehungen mit Erwachsenen wirklich freie Entscheidungen zu treffen. Ohne diese kann es aber keine wirkliche Einvernehmlichkeit geben.“

„Wirklich freie Entscheidungen“? Auf die meisten Beziehungen zwischen Erwachsenen würde dieser Standard von Einvernehmlichkeit nicht zutreffen. Tatsächlich liefert Wolf Jugendliche unter 18 und deren Partner der Macht des bürgerlichen Staates aus. Die einzige Richtlinie für jegliche sexuelle Beziehung muss tatsächliche Einvernehmlichkeit sein – das heißt die Beteiligten sind einverstanden und wissen, was sie tun – unabhängig von Alter, Geschlecht oder sexuellen Präferenzen.

Die ISO liefert Jugendliche dem unterdrückerischen sexuellen Status quo aus, was ihre Anpassung an die Vorurteile der kapitalistischen Ordnung und an rückständige Einstellungen in der allgemeinen Bevölkerung widerspiegelt. Letztendlich lässt sich das darauf zurückführen, dass die ISO seit vielen Jahren gegen jegliche Perspektive einer revolutionären Mobilisierung der Arbeiterklasse ist, bei der diese die Staatsmacht erobert, einen Arbeiterstaat errichtet – die Diktatur des Proletariats – und den Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft frei macht. Für die ISO ist Sozialismus mehr oder weniger nur die akkumulierte Anwendung von „Demokratie“ auf alle Sektoren der Unterdrückten, wobei die Arbeiterklasse als bloß ein weiterer Sektor gesehen wird. Die ISO will die Kapitalisten unter Druck setzen, ihre Ausbeuterordnung zu reformieren. In ihrer Perspektive für die Frauenbefreiung kommt das gleiche rührende Vertrauen in die Kraft von Reformen zum Ausdruck.

Warum Marxisten keine Feministen sind

Es ist interessant, dass die ISO in den letzten Jahren in ihrer Zeitung Socialist Worker eine Diskussion über Theorien der Frauenbefreiung führt. Das Motiv hierfür scheint der Wunsch zu sein, von der bisherigen Position der Organisation – Opposition gegen den Feminismus als bürgerliche Ideologie – abzurücken, um aktiv das feministische oder „sozialistisch-feministische“ Markenzeichen zu übernehmen. Zum Beispiel verkündete Abbie Bakan in einer Rede bei der Sozialismus-Konferenz der ISO 2013 (abgedruckt in „Marxism, Feminism and the Fight for Liberation“, socialistworker.org, 10. Juli 2013): „Die theoretische Behauptung, es gäbe eine Basis für eine kohärente marxistische Herangehensweise, die für ,Frauenbefreiung‘, aber gegen ,Feminismus‘ eintritt, ergibt keinen Sinn.“ (Bis zum März 2013 war Bakan eine prominente Unterstützerin der International Socialists in Kanada, politisch Verwandte der ISO.)

Dass die ISO seit kurzem ausdrücklich den „sozialistischen Feminismus“ in der Theorie übernimmt, ist einfach eine andere Hülle für den gleichen liberalen Inhalt. Doch das bietet uns eine Gelegenheit, die schon lange existierende marxistische Position zur Familie erneut darzustellen und zu betonen, dass die Befreiung der Frau für die sozialistische Revolution grundlegend und mit ihr untrennbar verbunden ist. Im Gegensatz zur feministischen Ideologie kann volle Gleichheit vor dem Gesetz die Unterdrückung der Frauen, die tief in der Familie und dem Privateigentum verwurzelt ist, nicht überwinden.

Wir haben stets betont, dass Marxismus und Feminismus schon immer politische Feinde gewesen sind. Dazu muss man einiges erklären. In den USA und anderen Ländern ist es inzwischen üblich, mit dem Begriff „feministisch“ die Auffassung zu bezeichnen, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollten. Aber wo der Feminismus auf die Ungleichheit eingeht, akzeptiert er den begrenzten Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft. Feminismus als Ideologie entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts und widerspiegelte die Bestrebungen einer Schicht bürgerlicher und kleinbürgerlicher Frauen, die die Vorrechte ihrer Klasse für sich in Anspruch nehmen wollten: Besitz von Eigentum und Erbrecht, Zugang zu Ausbildung und Beruf, Wahlrecht. Marxisten wollen weit mehr als diese begrenzte Vorstellung von „Gleichheit der Geschlechter“.

Marxisten wissen, dass die Befreiung der Frau nicht stattfinden kann ohne die Befreiung der gesamten Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung – und genau das ist unser Ziel. Dies hat der hochgeschätzte Führer der SPD August Bebel in seinem marxistischen Klassiker Die Frau und der Sozialismus (1879) vor mehr als einem Jahrhundert ausgeführt. Sein Werk, das in mehreren Ausgaben erschien, haben vor dem Ersten Weltkrieg Millionen von Arbeitern verschiedener Generationen gelesen. Die darin enthaltenen reichhaltigen Visionen über die Befreiung der Frau findet man nirgendwo in den entsprechenden Schriften der ISO. Zum Beispiel schreibt Bebel:

„Die Frau … wählt für ihre Tätigkeit diejenigen Gebiete, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen und ist unter den gleichen Bedingungen wie der Mann tätig. Eben noch praktische Arbeiterin in irgendeinem Gewerbe, ist sie in einem anderen Teil des Tages Erzieherin, Lehrerin, Pflegerin, übt sie in einem dritten Teil irgendeine Kunst aus oder pflegt eine Wissenschaft und versieht in einem vierten Teil irgendeine verwaltende Funktion.“

Bebel beschreibt, wie die Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft einen befriedigenden Charakter erhält – dabei sticht besonders heraus, dass dies gleichermaßen auf Männer zutrifft. Das berührt den Kernpunkt, warum sich Marxismus und Feminismus gegenseitig ausschließen und tatsächlich unversöhnlich gegenüberstehen. Für Feministinnen verläuft die grundlegende Teilung in der Gesellschaft zwischen Männern und Frauen, Sozialisten aber wissen, dass Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam kämpfen müssen, um der Unterdrückung und Ausbeutung durch die Kapitalistenklasse ein Ende zu setzen.

Marx wird entstellt

Bei ihrer theoretischen Wende hin zum „sozialistischen Feminismus“ macht die ISO Werbung für Lise Vogels Buch Marxism and the Oppression of Women: Toward a Unitary Theory [Marxismus und die Unterdrückung der Frauen: Hin zu einer einheitlichen Theorie] (Haymarket Books, 2013). Dieses ursprünglich 1983 veröffentlichte Buch wurde im Rahmen einer Reihe über historischen Materialismus neu aufgelegt und in der Einleitung von zwei kanadischen Akademikern angepriesen, die Unterstützer der ultra-reformistischen New Socialist Group sind. Schon vor 30 Jahren war das „sozialistisch-feministische“ Milieu, an das sich Vogel wandte, nahezu verschwunden. Da aber Lise Vogel für sich in Anspruch nimmt, in der „sozialistisch-feministischen“ Bewegung oder akademischen Strömung einen marxistischen Pol darzustellen, passt es der ISO ins Konzept, heute für Vogels Buch zu werben.

Im einleitenden Abschnitt des Buches distanziert sich Vogel gleichermaßen von nicht-marxistischen Feministen wie auch von nicht-feministischen Marxisten. Als ihre Hauptaufgabe bezeichnet sie es, den Charakter der Unterdrückung der Frau innerhalb der Struktur und der Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu analysieren. Was sie über Marx und Engels diskutiert, ist verworren, widersprüchlich und bombastisch. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf die Beziehung zwischen der häuslichen Arbeit oder der Hausarbeit und der Reproduktion der Arbeitskraft von Generation zu Generation. Für Vogel beruht die Unterdrückung der Frau ausschließlich auf der (unbezahlten) Hausarbeit der Frau. Sie sagt ausdrücklich: „Die Kategorie der ,Familie‘ … lässt als analytischer Ausgangspunkt zu wünschen übrig“, und ignoriert damit die weitergehenden Fragen der Rolle der Familie bei der Unterdrückung von Frauen und Kindern und die Bedeutung der Familie als eine zentrale Stütze der kapitalistischen Ordnung. Die Familie dient dazu, die Arbeiterklasse zu atomisieren, durch sie wird bürgerlicher Individualismus gefördert, ein Hindernis für Klassensolidarität.

Während Vogel ein begrenztes Verständnis von der Frauenunterdrückung zeigt, verleumdet sie Engels als „ökonomischen Deterministen“. Sie leugnet die kulturellen und sozialen Aspekte von Engels’ reichhaltigen Argumenten in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884). Um ein Beispiel zu geben: Sie beanstandet, Engels „macht nicht die Verbindung klar zwischen der Entwicklung eines besonderen Bereichs, der mit der Reproduktion der Arbeitskraft zu tun hat, und der Entstehung der Klassengesellschaft oder auch der kapitalistischen Gesellschaft.“ Das soll wohl heißen, dass Engels nicht aufgezeigt habe, wie sich die Entstehung der Klassengesellschaft auf die Mutterrolle der Frau auswirkte. Das ist einfach falsch.

In Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats beschreibt Engels den Ursprung der Familie in der Jungsteinzeit, als sich die Gesellschaft das erste Mal in Klassen spaltete. Für ein Verständnis der frühen Gesellschaft, vor der Entstehung von Klassen, war Engels auf die Informationen angewiesen, die damals zugänglich waren, und griff stark auf die bahnbrechende Arbeit von Lewis Henry Morgan unter den Irokesen im Norden des Staats New York zurück. Engels stellte dar, wie die Erfindung der Landwirtschaft ein gesellschaftliches Mehrprodukt hervorbrachte, das zum ersten Mal die Entwicklung einer müßigen herrschenden Klasse ermöglichte, die von der Arbeit anderer lebte. Die Familie, insbesondere die Monogamie der Frauen, wurde benötigt, um die ordentliche Übergabe von Eigentum und Macht an die Erben des Patriarchen sicherzustellen, an die nächste Generation der herrschenden Klasse. Seit der Zeit von Engels weiß man inzwischen viel mehr über die frühen Stadien der menschlichen Gesellschaft, aber sein Verständnis davon ist in den Grundzügen bestätigt worden.

Vogel analysiert nicht die soziale Rolle der Familie für die Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus, wo sie das Mittel ist, die nächste Generation von Arbeitssklaven großzuziehen. Im Kapital erklärte Marx, dass die Kosten der Arbeitskraft bestimmt werden durch die Kosten für Erhalt und Reproduktion des Arbeiters – seine tagtäglichen Ausgaben, seine Ausbildung und der Unterhalt für Frau und Kinder. Um Profite in die Höhe zu treiben, will der Kapitalist die Kosten der Arbeitskraft runterdrücken – nicht nur die Löhne, die in den Taschen der Arbeiter landen, sondern auch Sozialleistungen wie öffentliches Bildungs- und Gesundheitswesen, die nötig sind für den Erhalt des Proletariats.

Feministen kritisieren manchmal Aspekte der Familie, aber gewöhnlich klagen sie nur über „Geschlechterrollen“, als ob es hier um Lifestyle ginge oder darum, wer den Abwasch macht oder dem Baby die Flasche gibt. Die Institution Familie sozialisiert Menschen von Kindheit an, sich entsprechend bestimmter Normen zu benehmen, Autorität zu achten und sich an Gehorsamkeit und Unterordnung zu gewöhnen, was für die kapitalistische Profitmacherei so nützlich ist. Die Familie ist für die Bourgeoisie unentbehrlich als Quelle von Kleineigentum und in manchen Fällen Kleinproduktion, sie dient als ideologisches Hindernis für die Entwicklung von gesellschaftlichem Bewusstsein. Vogel ignoriert diese Fragen und konzentriert sich ausdrücklich auf die unbezahlte „Hausarbeit“ der Frauen.

Das oberste Ziel

Vogels Position ist sogar noch schwächer in Bezug auf das letztendliche Ziel der Frauenbefreiung. Man sieht das besonders in dem, was sie nicht sagt. Vogel behandelt die Frauenbefreiung getrennt von der Frage, wie ökonomischer Mangel überwunden und entfremdete Arbeit durch schöpferische, befriedigende Arbeit ersetzt werden kann – in der Fabrik ebenso wie im Haushalt. Sowohl das oberste Ziel einer kommunistischen Gesellschaft als auch die grundlegenden Mittel, dieses Ziel zu erreichen, liegen jenseits der intellektuellen Grenzen von Vogels „sozialistischem Feminismus“.

Als Marx und Engels erklärten, dass sie für ein materialistisches Verständnis von der Gesellschaft und ihren Veränderungen eintraten, bezogen sie sich nicht nur auf den Kapitalismus und auf frühere Klassengesellschaften (z. B. den Feudalismus). Sie lieferten auch ein materialistisches Verständnis von einer künftigen klassenlosen Gesellschaft. Tatsächlich war das ihre grundlegende Differenz mit den wichtigsten sozialistischen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts – den Anhängern von Owen, Fourier und Saint-Simon –, wie Engels es zusammenfassend in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (ursprünglich Teil des Anti-Dühring, seiner Polemik von 1878) erklärt. Marx und Engels war klar, dass eine sozialistische Gesellschaft – genauer gesagt das erste Stadium des Kommunismus – ein weit höheres Niveau an Arbeitsproduktivität erfordert, als es heute selbst die ökonomisch fortgeschrittensten kapitalistischen Länder haben. Das muss erreicht werden durch die fortwährende Expansion wissenschaftlicher Kenntnis und ihrer Anwendung in der Technologie.

Vogel hat kein derartiges Konzept. Das wird besonders klar, wo sie auf das frühe Sowjetrussland eingeht. Sie würdigt Lenins Verständnis der Frauenunterdrückung sehr und seine Entschlossenheit, sie zu überwinden, und sie zitiert zustimmend seine Rede „Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung“ von 1919:

„Sie alle wissen, dass diese faktische Unterdrückung der Frau auch bei völliger Gleichberechtigung bestehen bleibt, weil die gesamte Hauswirtschaft ihr aufgebürdet wird. Die Hauswirtschaft ist in den meisten Fällen die unproduktivste, die barbarischste und schwerste Arbeit, die die Frau verrichtet. Es ist eine sich im allerengsten Rahmen bewegende Arbeit, die nichts enthält, was die Entwicklung der Frau irgendwie fördern könnte.

Wir streben nach dem sozialistischen Ideal, wir wollen für die vollständige Verwirklichung des Sozialismus kämpfen, und da eröffnet sich für die Frau ein großes Betätigungsfeld. Wir bereiten uns jetzt ernstlich darauf vor, den Boden für den sozialistischen Aufbau herzurichten, der eigentliche Aufbau der sozialistischen Gesellschaft aber wird erst dann beginnen, wenn wir die vollständige Gleichstellung der Frau durchgesetzt haben und gemeinsam mit der von dieser abstumpfenden, unproduktiven Kleinarbeit befreiten Frau an die neue Arbeit gehen werden.“

Vogel behauptet fälschlicherweise, Lenin sei mit dieser Position allein auf weiter Flur gewesen. Daraus folgert sie, das Haupthindernis für die Überwindung der Frauenunterdrückung im jungen Sowjetrussland sei ideologisch gewesen: die bei Arbeitern und Bauern weit verbreitete patriarchalische Haltung im Zusammenhang mit einer angeblichen Gleichgültigkeit bei den überwiegend männlichen Kadern der bolschewistischen Partei gegenüber der Frauenbefreiung. Vogel schreibt:

„Lenins Bemerkungen über männlichen Chauvinismus erreichten nie programmatischen Ausdruck, und die Kampagne gegen ideologische Rückständigkeit bei Männern blieb bestenfalls ein untergeordnetes Thema in der Praxis der Bolschewiki. Dennoch drückten seine Bemerkungen über das Problem ein Verständnis von dessen Ernsthaftigkeit aus, das äußerst selten war… Lenins theoretische Beiträge hinterließen keinen bleibenden Eindruck.“

In Wirklichkeit unternahm die Sowjetregierung enorme Anstrengungen, um Arbeiterinnen von der Belastung der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu befreien, und errichtete öffentliche Küchen, Wäschereien, Kindergärten und Ähnliches. Sowohl die Bolschewiki als auch die Kommunistische Internationale gründeten besondere Abteilungen für die Arbeit unter Frauen. Der Schenotdel war sowohl in den europäischen als auch in den zentralasiatischen Regionen des jungen sowjetischen Arbeiterstaates aktiv.

Die Grenzen für die befreiende Politik der kommunistischen Regierung unter W. I. Lenin und Leo Trotzki waren nicht ideologischer Natur, sondern ergaben sich aus objektiven Bedingungen: knappe materielle Ressourcen, was noch verschlimmert wurde durch jahrelangen imperialistischen Krieg und Bürgerkrieg. Trotzki erklärte 1923 in dem Aufsatz „Von der alten Familie – zur neuen“, enthalten in der Zusammenstellung von Schriften Fragen des Alltagslebens (1924 – ein Werk, das Vogel nicht erwähnt):

„Die Vorbereitung der materiellen Bedingungen des neuen Lebens und der neuen Familie kann wiederum in ihrer Grundlage nicht von der allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus getrennt werden. Der Arbeiterstaat muss erst reicher werden, damit er ernsthaft und wie es sich gehört die öffentliche Erziehung der Kinder und die Entlastung der Familie von Küche und Waschküche in Angriff nehmen kann. Die Vergesellschaftung der Familienwirtschaft und der Kindererziehung ist undenkbar ohne ein gewisses Reicherwerden unserer Wirtschaft als Ganzes. Wir brauchen notwendig die sozialistische Akkumulation. Nur unter dieser Bedingung werden wir die Familie von solchen Funktionen und Sorgen befreien können, durch die sie heute unterdrückt und zerstört wird. Die Wäsche muss durch eine gute öffentliche Wäscherei gewaschen werden. Die Verpflegung muss durch ein gutes öffentliches Restaurant besorgt werden. Die Bekleidung muss Sache einer Kleiderwerkstatt sein. Die Kinder müssen durch gute öffentliche Pädagogen erzogen werden, die in dieser Tätigkeit ihren wahren Beruf sehen.“

Materielle Knappheit war auch in einer anderen wichtigen Hinsicht die Ursache für Ungleichheit zwischen Mann und Frau im frühen Sowjetrussland (das würde auch auf jeden anderen ökonomisch rückständigen Arbeiterstaat zutreffen). Und zwar betrifft dies den Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften, für die modernes Know-how und technische Kapazität erforderlich sind. Qualifizierte Industriearbeiter und Angehörige der technischen Intelligenz (z. B. Ingenieure, Architekten) mussten besser bezahlt werden als ungelernte Arbeiter, obwohl die Differenz viel geringer war als in kapitalistischen Ländern. Diese besser bezahlte Schicht der Arbeitskräfte, die aus dem kleinen Bereich des modernen Kapitalismus im zaristischen Russland stammte, bestand hauptsächlich aus Männern. Zwar bemühte man sich, dies zu korrigieren, aber der junge Arbeiterstaat hatte nicht genug materielle Ressourcen, um ausreichend viele Frauen als Maschinisten und Ingenieure ausbilden und trainieren zu können, so dass bei den Facharbeitern die männliche Vorherrschaft überwunden würde.Vogel beendet ihr Buch mit einer Prognose, wie der Übergang zum Kommunismus nach dem Sturz des Kapitalismus aussehen könnte:

„Unter dem Eindruck der schrecklichen Realität von Frauenunterdrückung riefen die utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts zur Abschaffung der Familie auf. Diese drastische Forderung findet sogar noch heute Fürsprecher unter Sozialisten. Stattdessen jedoch wirft der historische Materialismus die schwierige Frage auf, wie die Hausarbeit gleichzeitig verringert und umverteilt werden kann, während sie zu einem integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Produktion in der kommunistischen Gesellschaft gemacht wird. Ebenso wie beim Übergang im Sozialismus gilt: ,der Staat wird nicht „abgeschafft“, er stirbt ab‘, so muss auch die Hausarbeit absterben. Die angemessene Handhabung von Hausarbeit und Frauenarbeit während des Übergangs zum Kommunismus ist daher ein dringendes Problem für die sozialistische Gesellschaft, denn nur auf dieser Grundlage können die ökonomischen, politischen und ideologischen Bedingungen für die wahre Befreiung der Frau geschaffen und erhalten werden. Bei diesem Prozess wird die Familie in ihrer besonderen historischen Form als eine auf Verwandtschaft basierende soziale Einheit zur Reproduktion von auszubeutender Arbeitskraft in der Klassengesellschaft ebenfalls absterben – und damit sowohl patriarchalische Familienbeziehungen als auch die Unterdrückung von Frauen.“ (Hervorhebung im Original)

Aber wie kann diese Verringerung und Umverteilung der häuslichen Arbeit erreicht werden? Beim Übergang von der Diktatur des Proletariats zum völligen Kommunismus geht die Umwandlung der Familie damit einher, dass die Produktion gesteigert wird und größerer Überfluss entsteht. Ihr Absterben bzw. ihre Auflösung kommt durch ökonomischen Erfolg zustande. In diesem Prozess wird sie ersetzt werden durch neue Lebensweisen, die das Leben unvorstellbar reichhaltiger, menschlicher und erfüllter machen werden. Da bei dieser Umwandlung Menschen nach neuen Lebensweisen suchen, kann es durchaus nötig sein, einige Regeln aufzustellen. In der Übergangsperiode wird die Aufgabe des demokratischen Arbeiterkollektivs, des Sowjets, darin bestehen, Alternativen zu schaffen und den Prozess anzuleiten.

Vogel stellt nicht die zentrale Frage: Wenn Frauen von der Schufterei im Haushalt befreit werden sollen, was tun sie dann nach ihrer Befreiung? Wird eine Verringerung der für Hausarbeit verwendeten Zeit ersetzt durch eine vergleichbare Verlängerung der Zeit am Arbeitsplatz – zwei Stunden weniger Wäschewaschen und Bodenwischen, dafür zwei Stunden mehr am Fließband? Das ist sicher nicht die marxistische Vorstellung von der Befreiung der Frau.

Hausarbeit und Kindererziehung durch gesellschaftliche Institutionen zu ersetzen bedeutet auch, dass sich die Beziehung zwischen Produktion und Arbeitszeit grundlegend verändert. In einer sozialistischen Planwirtschaft wird jede ökonomische Aktivität – von der Stahl- und Computerproduktion bis zur Reinigung von Kleidungsstücken, Fußböden und Möbeln – ständig so gesteigert, dass eine Arbeitszeiteinheit schnell mehr ergibt. Es kann durchaus sein, dass die meiste Hausarbeit schon lange automatisiert ist, bevor die Gesellschaft kommunistisch wird. Allgemeiner gesagt wird die Gesamtarbeitszeit, die notwendig ist für Produktion und Instandhaltung von Verbrauchs- und Produktionsmitteln, immer weiter verringert werden.

In einer wirklich kommunistischen Gesellschaft wird die meiste Zeit das sein, was wir heute „Freizeit“ nennen. Für notwendige Arbeiten wird ein so kleiner Anteil an Zeit und Energie benötigt, dass der einzelne Mensch sie freiwillig leistet für das gesellschaftliche Kollektiv. Jeder wird über Zeit verfügen und über entsprechende Materialien und kulturelle Ressourcen für schöpferische, befriedigende Arbeit. In seiner Schrift Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) führte Marx das Komponieren von Musik als ein Beispiel für wirklich freie Arbeit an.

2005 brachte Sharon Smith, eine Führerin in der Internationalist Socialist Organization (ISO) und selbsternannte Theoretikerin, ein Buch heraus mit dem Titel Women and Socialism: Essays on Womens Liberation [Frauen und Sozialismus: Aufsätze zur Frauenbefreiung] (Haymarket Books); das Buch soll im Laufe des Jahres als überarbeitete, erweiterte Ausgabe neu erscheinen. Aus dieser neuen Ausgabe erschien ein Auszug unter der Überschrift „Theorizing Womens Oppression: Domestic Labor and Womens Oppression“ [Theoretische Gedanken über die Frauenunterdrückung: Hausarbeit und Frauenunterdrückung] in International Socialist Review (März 2013), worin nach eigener Aussage die neue Herangehensweise der ISO an den Feminismus dargestellt wird. Smiths „theoretische Gedanken“ gehen in hohem Maße von der Vorstellung aus, Grundlage der Frauenunterdrückung sei unbezahlte Hausarbeit, ähnlich wie Lise Vogel in ihrem Buch Marxism and the Oppression of Women: Toward a Unitary Theory [Marxismus und die Unterdrückung der Frauen: Hin zu einer einheitlichen Theorie] (Haymarket Books, 2013).

Zuallererst übt Smith Kritik an Karl Marx und Friedrich Engels, was sicher notwendig ist, wenn man sich Eintritt ins kleinbürgerlich-feministische Milieu verschaffen will: „Was Marx und Engels über die Frauenunterdrückung formulieren, enthält oft widersprüchliche Bestandteile: In mancher Hinsicht stellen sie den Status quo der Geschlechter grundlegend infrage, in anderer Hinsicht widerspiegeln sie ihn lediglich.“ Noch stärker kritisiert Smith die bolschewistische Revolution von 1917 in Russland, ein Ereignis, das für feministische und andere Liberale bestenfalls ein fehlgeschlagenes utopisches Experiment ist und schlimmstenfalls die Geburt eines totalitären Polizeistaats.

Sie bedient sich antikommunistischer Vorurteile und behauptet, die Bolschewiki hätten die Mutterschaft zur höchsten gesellschaftlichen Pflicht erklärt und dadurch die traditionelle Rolle der Frau verstärkt: „Trotz der enormen Errungenschaften der Russischen Revolution von 1917 – wie die Legalisierung von Abtreibung und Scheidung, das Recht zu wählen und für ein politisches Amt zu kandidieren und auch die Abschaffung von Gesetzen, durch die Prostitution oder Homosexualität kriminalisiert wurden – entstand daraus keine Theorie, welche entweder die natürlichen heterosexuellen Normen in Frage stellte oder die vorrangige Bestimmung der Frau als Mutter.“ Smith zitiert anschließend eine Erklärung von John Riddell, einem linken Historiker, der häufig in der ISO-Zeitung International Socialist Review veröffentlicht wird: „In dieser Periode sahen kommunistische Frauen das Kindergebären als soziale Verantwortlichkeit an und wollten ,armen Frauen, die die Mutterschaft als die größte Freude erleben wollen‘, helfen.“

Smith und Riddell benutzen hier ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat und verfälschen so die bolschewistische Lehre und Praxis. Für die Bolschewiki war die Ersetzung der Familie durch kollektive Maßnahmen der Kindererziehung kein entferntes Ziel einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, sondern ein Programm, mit dessen Umsetzung sie im bestehenden sowjetischen Arbeiterstaat Russland gerade erst begonnen hatten. Alexandra Kollontai, die die bolschewistische Arbeit unter Frauen mit anleitete, trat dafür ein, dass vergesellschaftete Einrichtungen voll verantwortlich sind für das körperliche und seelische Wohlergehen der Kinder vom Säuglingsalter an. In ihrer Rede auf dem Ersten All-Russischen Frauenkongress 1918 sagte sie:

„In kleinen Schritten übernimmt die Gesellschaft all die Sorgen, die bisher nur auf den Eltern lasteten…

Häuser für Kleinkinder, Krippen, Säuglingsheime, Kindergärten, Kinderkolonien und -häuser, Krankenhäuser und Sanatorien, um kranke Kinder zu behandeln und zu heilen, ebenso Kinderkantinen, Schulspeisung, kostenlose Vergabe von Büchern an Kinder, Ausstattung der Kinder mit warmer Kleidung und Schuhen: Zeigt das nicht, dass die Kinderfürsorge über die Grenzen der Familie hinausgeht, den Eltern abgenommen und dem Kollektiv, der Gesellschaft, übertragen wird?“ („The Family and the Communist State“, aus: Bolshevik Visions: First Phase of the Cultural Revolution in Soviet Russia, Hrg. William G. Rosenberg. University of Michigan Press, 1990)

In einer sozialistischen Gesellschaft wird das Pflege- und Lehrpersonal der Krippen, Vorschulen und Kindergärten aus Männern und Frauen bestehen. So – und nur so – wird die seit Urzeiten bestehende Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau bei der Erziehung von Kleinkindern aufgehoben werden.

Kollontais Ansichten über die Zukunft der Familie waren bei führenden Bolschewiki nichts Ungewöhnliches. In Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917-1936 [Frauen, der Staat und die Revolution: Sowjetische Familienpolitik und gesellschaftliches Leben 1917–1936] (Cambridge University Press, 1993) schreibt Wendy Goldman, eine amerikanische Akademikerin mit Sympathien für liberalen Feminismus, dass Alexander Goichbarg, der Hauptautor der ersten Verordnung zu Ehe, Familie und Vormundschaft (1918), „Eltern ermutigte, ihre ,enge und irrationale Liebe für ihre Kinder‘ abzulegen. Seiner Ansicht nach würde eine staatliche Erziehung ‚weit bessere Ergebnisse erzielen als die private, individuelle, unwissenschaftliche und irrationale Herangehensweise individuell „liebender“ aber ignoranter Eltern‘.“ Ziel der Bolschewiki war nicht nur, Frauen von der Schufterei im Haushalt und von patriarchalischer Herrschaft zu befreien, sondern auch Kinder von den oft schlimmen Auswirkungen elterlicher Autorität.

Die Bolschewiki und kollektive Kinderbetreuung

Im Einklang mit Vogel schreibt Smith:

„Wenn die ökonomische Funktion der Arbeiterfamilie, die so wichtig ist für die Reproduktion der Arbeitskraft im kapitalistischen System – und gleichzeitig die gesellschaftliche Ursache der gesamten Frauenunterdrückung bildet –, abgeschafft wäre, könnte die materielle Grundlage für die Frauenbefreiung geschaffen werden. Damit kann man überhaupt erst anfangen, wenn das kapitalistische System abgeschafft und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt worden ist, in der die häusliche Arbeit vergesellschaftet ist, die früher von den Frauen erledigt wurde.“

Es ist nicht eindeutig, wie Smith hier den Begriff „häusliche Arbeit“ benutzt. Meint sie nur Hausarbeit und die materielle Versorgung der Kleinkinder? Was ist mit der „häuslichen Arbeit“, die all das betrifft, was heutzutage in den USA als Aufgabe der Eltern angesehen wird? Das sagt Smith nicht. Sie ignoriert einfach die Frage der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen einer Mutter und ihren Kindern: ihnen zuzuhören und über ihre Probleme, Wünsche und Ängste zu reden; ihnen die Anfänge des Sprechens beizubringen und die Grundlagen, wie man auf Hygiene und Sicherheit achtet und andere praktische Aufgaben erledigt; mit ihnen zu spielen; bei den Hausaufgaben zu helfen. Aber wenn man meint, dass mit solchem Zusammensein das Kollektiv nichts zu tun hat, dann deckt sich Smiths Vorstellung von Sozialismus völlig mit der Erhaltung der Familie, nur ohne Hausarbeit.

Weshalb gibt es Zweideutigkeit in einer Frage von so zentraler Bedeutung? Die ISO wendet sich an junge links-liberale Idealisten, indem sie ihnen eine Version von „Marxismus“ verkauft, die auf deren Ansichten und Vorurteile zugeschnitten ist. Fast nie bezieht diese Organisation zu irgend einer Frage eine Position, die im amerikanischen radikal-liberalen Milieu wirklich unpopulär ist. Junge feministisch gesinnte Frauen finden sicher die Vorstellung eines Familienlebens ohne Hausarbeit ziemlich attraktiv. Aber das eigene Einfamilienhaus und die Sorge einzig und allein für die „eigenen“ Kinder aufgeben? Das kleinbürgerliche Publikum, das Smith anspricht, wäre entsetzt über das bolschewistische Programm zur Umgestaltung des täglichen Lebens durch kollektive Formen des Zusammenlebens. So schrieb Kollontai:

„Die arbeitende Frau, die sich in sozialen Kämpfen für die große Sache der Befreiung der Arbeiter einzusetzen beginnt, muss verstehen lernen, dass die alten Aufteilungen nicht existieren müssen. Dies sind meine Kinder, und all meine mütterliche Sorge, meine ganze Liebe, gehört ihnen. Und dies sind deine Kinder, die des Nachbarn, die kümmern mich nicht. Sollen sie doch mehr hungern als meine, mehr frieren als meine, ich kümmere mich nicht um die Kinder von anderen! Jetzt muss die Mutter, die Arbeiterin ist und Bewusstsein hat, lernen, keinen Unterschied zwischen dein und mein zu machen, sondern daran denken, dass es einfach unsere Kinder sind, die Kinder des arbeitenden, kommunistischen Russlands.“ (Hervorhebung im Original)

Noch 1929 hatte die Kommunistische Partei Russlands (KP) die Losung vom Absterben der Familie, obwohl fünf Jahre zuvor eine konservative bürokratische Kaste unter J.W. Stalin an die politische Macht gekommen war. Doch wie wir in „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 25, Frühjahr 2006) schrieben: „Erst 1936/37, als die Degeneration der russischen KP vollendet war, wurde das in der stalinistischen Doktrin zum ,groben Fehler‘ gestempelt, indem man nunmehr zum ,Wiederaufbau der Familie auf neuer sozialistischer Grundlage‘ aufrief.“

Die Familie: ein Produkt der Gesellschaft

Während Smith und Riddell fälschlicherweise behaupten, das frühe bolschewistische Regime hätte die Frau in ihrer traditionellen Rolle hauptsächlich als Betreuerin ihrer Kleinkinder bestärkt, kritisiert Goldman die Bolschewiki, dies gerade nicht getan zu haben:

„Die Bolschewiki maßen den starken emotionalen Bindungen zwischen Eltern und ihren Kindern wenig Bedeutung bei. Sie gingen davon aus, dass die notwendige Betreuung von Kindern, selbst Säuglingen, bezahlten Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes übertragen werden könne. Sie tendierten dazu, die Rolle der Mutter-Kind-Bindung beim Überleben des Säuglings und der frühen Kindesentwicklung herunterzuspielen, obwohl ein auch nur flüchtiger Blick auf die Arbeit der vorrevolutionären Heime für Findelkinder enthüllt hätte, wie schockierend niedrig die Überlebensrate von Kleinkindern in solchen Einrichtungen war und was einer gesunden Kindesentwicklung im Wege stand.“

Diese Analogie ist völlig daneben. Die Behandlung und das Schicksal von Kleinkindern in den ärmlichen Heimen des zaristischen Russlands für Findelkinder kann mit der kollektiven Kinderbetreuung in einer revolutionären Gesellschaft überhaupt nicht verglichen werden. Ein Arbeiterstaat, besonders in einem wirtschaftlich fortgeschrittenen Land, hätte die menschlichen und materiellen Mittel, um in jeder Hinsicht weit besser für Kleinkinder zu sorgen als eine Mutter im Rahmen eines privaten Familienhaushalts.

Außerdem legten die Bolschewiki großen Wert auf Gesundheit und Wohlergehen von Mutter und Kind. Das Arbeitsgesetz von 1918 sah mindestens alle drei Stunden eine bezahlte Pause von 30 Minuten vor, in der das Baby gefüttert werden konnte. Durch die im gleichen Jahr eingeführte Mutterschaftsversicherung gab es voll bezahlten Mutterschaftsurlaub von acht Wochen, Stillpausen und Ausruhmöglichkeiten für Frauen während der Arbeitszeit, kostenlose medizinische Behandlung vor und nach der Geburt und finanzielle Hilfen.

Dieses Programm war mit seinem Netz von Mutterschaftskliniken, Beratungsbüros, Stillplätzen, Kindertagesstätten und Heimen für Mutter und Kind die bei russischen Frauen vielleicht populärste Neuerung des Sowjetregimes.

Feministen in den USA und anderen Ländern prangern normalerweise die Aussage „Biologie entscheidet das Schicksal“ als Ausdruck von männlichem Chauvinismus an. Goldman jedoch geht davon aus, dass Frauen – oder ebenso Männer –, die mit Babys und Kleinkindern nicht biologisch verwandt sind, nicht die gleichen Beschützerinstinkte entwickeln können wie die leibliche Mutter. Eltern adoptierter Kinder werden sicher dagegen argumentieren. Aber die heutigen Adoptionspraktiken in den USA gehen ebenfalls von der Vorstellung aus, dass ein Kind nur in einer „Familie“ – seien es nun die biologischen Eltern, Adoptiveltern oder schwule/lesbische oder transsexuelle Eltern – die angemessene Fürsorge und Liebe erhalten kann. Die Vorstellung, dass Kindererziehung nur in einer Familie gelingen kann, ist keineswegs ein Naturgesetz, sondern ein Produkt der Gesellschaft.

Als die Menschen noch Jäger und Sammler waren (die mit Abstand längste Zeit in den 200 000 Jahren, seit es unsere Spezies gibt), lebten sie nicht in einer „Paarbindung“ als Grundeinheit, sondern in einer Horde oder einem Volksstamm. Ein Beispiel aus der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit lieferten jesuitische Missionare im 17. Jahrhundert über die Naskapi, ein Volk von Jägern auf der Halbinsel Labrador. Eleanor Burke Leacock erwähnt in ihrer ausgezeichneten Einleitung zu Engels’ Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (International Publishers, 1972), dass die Jesuiten sich über die sexuelle Freizügigkeit der Naskapi-​Frauen beschwerten und einen Mann darauf ansprachen, dass „er selbst nicht sicher war, ob sein Sohn, der mit anwesend war sein Sohn war.“

Das Verschwinden der Klassen und des Privateigentums im Kommunismus würde unweigerlich zu völlig freien sexuellen Beziehungen führen und jede Vorstellung von ehelich und unehelich verschwinden lassen. Alle könnten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur internationalen Sowjetgesellschaft deren Leistungen in vollem Umfang in Anspruch nehmen.

Die Familie: Träger bürgerlicher Ideologie

Vogel und Smith beschränken stillschweigend das Konzept der häuslichen Arbeit auf körperliche Aktivitäten. So schreibt Smith: „Die tagtäglichen Verantwortlichkeiten in der Familie drehen sich immer noch um Ernährung, Kleidung, Reinigung und andere Betreuung von Angehörigen, und diese Verantwortung fällt immer noch hauptsächlich den Frauen zu.“ Aber Kinder zu erziehen für ihren zukünftigen Eintritt in den Arbeitsmarkt ist nicht das Gleiche wie die Aufzucht von Kälbern und Lämmern für den Viehmarkt. Die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft hat nicht nur einen biologischen, sondern auch einen sozialen, d. h. ideologischen Charakter. Ein Kind zur Kirche oder zum Religionsunterricht zu bringen ist auch eine Form der häuslichen Arbeit und auf eigene Weise ebenso wichtig für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems; das Gleiche gilt für einen Kinobesuch, bei dem das Kind die Verherrlichung von „Familienwerten“, Patriotismus usw. erfährt. Die Familie ist die elementare Institution, durch die die bürgerliche Ideologie in ihren unterschiedlichen Formen von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.

Zwei führende Bolschewiki, Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski, erklärten in Das ABC des Kommunismus (1920), dass die Kapitalisten als winzige Minderheit die Arbeiterklasse nicht ausschließlich mit physischer Gewalt und Zwang durch Polizei und Militär beherrschen können. Bei der Aufrechterhaltung des Kapitalismus geht es auch um die Macht von Ideen:

„Die Bourgeoisie versteht sehr wohl, dass sie mit bloßer Gewalt die Arbeitermassen nicht überwältigen kann. Es ist nötig, auch die Gehirne der Massen von allen Seiten mit einem dünnen Spinngewebe zu umspinnen… Genau so züchtet auch der Kapitalistenstaat Fachleute für Verblödung, Verdummung und Bändigung des Proletariats: bürgerliche Lehrer und Professoren, Pfaffen und Bischöfe, bürgerliche Skribenten und Zeitungsmacher.“

Bucharin und Preobraschenski nennen drei wesentliche Institutionen, durch die die Vorherrschaft bürgerlicher Ideologie aufrechterhalten wird: Schulsystem, Kirche und Presse, wozu heute auch Massenmedien wie Film, Fernsehen und das Internet gehören.

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, wo Kinder allgemein als Eigentum ihrer Eltern angesehen werden, steht die Familie zu jeder dieser drei Institutionen in einem anderen Verhältnis. Laut Gesetz müssen Kinder ab dem Alter von fünf oder sechs Jahren eine Schule besuchen (öffentlich oder privat), und häufig gehen jüngere Kinder in die Vorschule. Schon Kleinkinder sitzen vor dem Fernseher, wobei manche Eltern, meist die Mütter, das Programm bestimmen. Im Gegensatz zu Lehrern und TV-Produzenten haben Geistliche nicht automatisch einen derart direkten Zugang zu Kleinkindern – in den USA und anderen Ländern entscheiden die Eltern, ob ihre Kinder religiöser Indoktrinierung unterworfen werden oder nicht. Eine solche Indoktrinierung wird Kindern zumindest anfänglich entgegen ihren subjektiven Wünschen aufgezwungen. Es gibt wahrscheinlich keinen einzigen Vier- oder Fünfjährigen auf dem ganzen Planeten, der nicht lieber mit anderen Kindern spielen als einen Gottesdienst besuchen würde.

Man stelle sich einen zehnjährigen Jungen vor, dessen Eltern praktizierende Katholiken sind. Seit er denken kann, ist er in die Kirche mitgenommen worden. Er hat eine katholische Schule besucht, entweder anstelle einer öffentlichen Schule oder zusätzlich. Er hat sich Tischgebete anhören müssen und hat im häuslichen Alltag auf vielfältige Weise religiösen Glauben mitbekommen. Es ist gut möglich, dass ein solches Kind an dem katholischen Glauben und seinen Lehren festhält, zumindest bis es sich in einem späteren Lebensabschnitt von der elterlichen Autorität gelöst hat. Man stelle sich umgekehrt einen Zehnjährigen vor, dessen Eltern nicht religiös sind. Seine Kenntnisse über Religion beschränken sich auf sein Schulwissen, auf gelegentliche Informationen aus Film und Fernsehen sowie auf Diskussionen mit religiösen Kindern. Ein solches Kind wird höchstwahrscheinlich nicht religiös sein. Aber wenn ein Kind nicht religiös ist, wird es dadurch noch nicht immun gegenüber anderen, eher „fortschrittlichen“ Formen bürgerlicher Ideologie. Ein Kind, das bei Eltern aufwächst, die Anhänger des „säkularen Humanismus“ sind, wird wahrscheinlich in den USA beim politischen Liberalismus und in Westeuropa bei der Sozialdemokratie landen oder sich möglicherweise zur intellektuellen Elite zugehörig fühlen. Es existiert auch eine Strömung des libertären Atheismus (wie bei Ayn Rand), die ichbezogenen Individualismus und kapitalistische „freie Marktwirtschaft“ glorifiziert. Religion ist nicht die einzige Form reaktionärer bürgerlicher Ideologie.

Die Familie unterdrückt Kinder und Frauen, und sie wirkt sich auch sehr deformierend auf das Bewusstsein der Männer aus. Diese Grundwahrheit der Gesellschaft wird sowohl von liberalen als auch von „sozialistischen“ Feministinnen ignoriert, wenn nicht sogar geleugnet. Für diese Leute ist die Anerkennung der Tatsache, dass die Unterdrückung der Kinder zum Wesen der Familie gehört, gleichbedeutend mit einer Kritik (welch ein Graus!) an dem gesellschaftlich bedingten Verhalten der Frauen in ihrer Rolle als Mütter. Vorgebliche Marxisten wie Vogel und Smith, welche die These verbreiten, der Grund für Frauenunterdrückung sei die häusliche Arbeit, gehen bei Müttern stillschweigend davon aus, dass sie für ihre Kinder immer nur Gutes tun.

Gegen die sexuelle Unterdrückung von Kindern

Die meisten Feministen verurteilen zwar körperliche Misshandlungen von Kindern, sind aber im Grunde gleichgültig gegenüber psychischen Misshandlungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kinder von Eltern, die fundamentalistische Christen sind (egal ob Katholiken oder Protestanten) leiden dadurch unter seelischen Qualen, dass sie glauben in die Hölle zu kommen, wenn sie sich schlecht benehmen.

Weitaus stärker verbreitet und psychologisch schädlicher ist die sexuelle Unterdrückung von Kindern bis weit in die Pubertät hinein. Die kapitalistische Gesellschaft ist darauf aus, bei Kindern von Geburt an sexuelles Verhalten zu bestrafen. Selbst die aufgeklärtesten Eltern können ihre Kinder nicht vor der sexfeindlichen moralistischen Ideologie bewahren, die überall in der amerikanischen Gesellschaft verbreitet ist – von den rosa- oder blaufarbigen Regalreihen bei Toys „R“ Us und dem Verbot, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen, bis hin zur Verteufelung jeglicher sexuellen Aktivität von Kindern, auch der Selbstbefriedigung. Als die ursprünglichen Bezugspersonen der Säuglinge und Kleinkinder setzen Mütter, mehr noch als Väter, den Prozess dieser sexuellen Unterdrückung in Gang und bringen den Kindern bei, gegenüber ihrem Körper Scham zu empfinden und ihre natürliche Neugier zu unterdrücken.

Im Vergleich zu den heutigen „sozialistischen Feministen“ steht August Bebel, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein zentraler Führer der deutschen Sozialdemokratie, wie ein radikaler sexueller Freigeist da. In Die Frau und der Sozialismus (1879) betonte er ausdrücklich:

Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebs. Niemand hat darüber einem anderen Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen…

Die eine Tatsache, dass jene blöde Scheu und lächerliche Heimlichtuerei, über geschlechtliche Dinge zu sprechen, verschwindet, wird den Verkehr der Geschlechter weit natürlicher gestalten, als dies heute der Fall ist.“ (Hervorhebung im Original)

Man kann Hunderte Seiten lesen, die von heutigen „sozialistischen Feministen“ geschrieben wurden, ohne irgendein Argument dafür zu finden, dass eine sozialistische Gesellschaft es allen ermöglichen wird, ihre sexuellen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen.

Die kommunistische Zukunft

Im Kommunismus werden die Menschen wirklich und wahrhaftig frei sein, um ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zu gestalten und neu zu gestalten. Natürlich ist das keine absolute Freiheit. Die Menschheit kann ihre biologische Herkunft und ihr Verhältnis zur natürlichen Umwelt nicht überwinden. Auch im Kommunismus altern und sterben Männer und Frauen. Die Menschheit kann auch nicht einfach reinen Tisch machen und die Gesellschaft ganz neu aufbauen. Im Kommunismus wird die Menschheit so oder so das angehäufte kulturelle Erbe unserer Spezies übernehmen. Über die sexuellen Praktiken in der kommunistischen Gesellschaft können wir nichts wissen, weil die Menschen in der Zukunft darüber bestimmen werden. Jede Vorhersage, und erst recht jede Vorschrift, wäre geprägt durch Verhaltensweisen, Werte und Vorurteile, die aus einer repressiven Klassengesellschaft stammen.

Ein grundlegender Unterschied zwischen Marxisten und liberalen oder vorgeblich sozialistischen Feministen besteht darin, dass unser höchstes Ziel nicht die Gleichheit der Geschlechter an sich ist, sondern die immer weitere Entwicklung der menschlichen Spezies insgesamt. Die gemeinsame Kindererziehung unter Bedingungen des materiellen Überflusses und der kulturellen Reichhaltigkeit wird Menschen hervorbringen, die mit ihren geistigen Fähigkeiten und ihrem psychischen Wohlbefinden den heutigen Menschen weit überlegen sind, die noch in einer Klassengesellschaft unter ärmlichen Bedingungen leben müssen und unterdrückt werden. In seiner Rede „Verteidigung der Russischen Revolution“ (Trotzki, Schriften 1.1, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1988) sagte Leo Trotzki 1932:

„Zwar hat die Menschheit mehr als einmal Giganten des Gedankens und der Tat hervorgebracht, die die Zeitgenossen wie Gipfel einer Bergkette überragten. Das Menschengeschlecht hat ein Recht, auf Aristoteles, Shakespeare, Darwin, Beethoven, Goethe, Marx, Edison, Lenin stolz zu sein. Warum sind diese aber so selten? Vor allem darum, weil sie fast ausnahmslos aus höheren und mittleren Klassen hervorgegangen sind. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, sind die Funken der Genialität in den niedergehaltenen Tiefen des Volkes, ehe sie noch auflodern konnten, erstickt. Aber auch deshalb, weil der Prozess der Zeugung, der Entwicklung und Erziehung des Menschen im Wesen eine Sache des Zufalls blieb und bleibt: nicht durchleuchtet von Theorie und Praxis, nicht dem Bewusstsein und dem Willen untergeordnet…

Ist er einmal mit den anarchistischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertig geworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten. Der Sozialismus wird einen Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit auch in dem Sinne bedeuten, dass der gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch einer neuen und glücklicheren Rasse den Weg ebnen wird.“

 

Spartakist Nr. 209

Spartakist Nr. 209

August 2015

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