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Spartakist Nummer 211

Winter 2015/16

Organisiert die Unorganisierten! Volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben!

Sieg dem Amazon-Streik!

Am 18. Dezember kam es bei Amazon erneut zu Streiks in Bad Hersfeld, Graben und Leipzig. Nachfolgendes Flugblatt verteilten wir Spartakisten bereits am 11. Dezember an die Frühschicht. Wir trafen dabei auf eine sehr heterogene Arbeiterschaft: Saisonarbeiter unterschiedlicher Herkunft sowie Studenten und Festangestellte als Picker, Packer und Stower. Aber auch Arbeiter von Fremdfirmen, die im Betrieb arbeiten, nahmen unsere Flugblätter gerne an. Bei unseren Diskussionen ging es darum, wie man die Streikaktionen von ver.di unterstützen könnte. Eine Frau, die bis jetzt jeden Streik mitgemacht hatte, erzählte noch begeistert von einer Aktion im Sommer, wo sie den Poststreik unterstützt hatten und sich auch mit Arbeitern von Aldi trafen, die selbst damals eine Streikaktion machten. Durch die Nadelstichstreikaktionen von ver.di würden sich jedoch immer weniger Arbeiter an Streiks beteiligen. Die Saisonarbeiter, mit denen wir sprachen, waren meist sehr positiv gegenüber den Streiks eingestellt. Einige meinten, sie dürften nicht mitstreiken, weil sie sonst ihre Arbeit verlieren würden. Viele von ihnen kommen bereits das dritte oder vierte Jahr. Daher ist es sehr dringend, dafür zu kämpfen, dass sie mehr Rechte im Betrieb erhalten und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Sonst wären sie, wie ein Saisonarbeiter meinte, „niedrig bezahlte Streikbrecher“. Nur wenige Arbeiter waren ablehnend uns gegenüber. In unseren Diskussionen hoben wir die Notwendigkeit hervor, alle Arbeiter zu organisieren, um dem Streik zum Sieg zu verhelfen. Ein ver.di-Unterstützer, der unsere Forderung „für volle Staatsbürgerrechte“ absolut richtig fand, kaufte sofort die neueste Ausgabe des Spartakist.

Am 30. November erreichte der Streik bei Amazon einen vorläufigen Höhepunkt, als Arbeiter an sieben Standorten aufgerufen waren, die Arbeit niederzulegen, und es im polnischen Wrocław zu Solidaritätsaktionen kam. Seit Mitte November wird bereits an einzelnen Standorten tageweise für einen Tarifvertrag gestreikt. Mit diesem Ziel wird von der Gewerkschaft ver.di zum dritten Mal in Folge das von Jahr zu Jahr wachsende Weihnachtsgeschäft Amazons bestreikt. Allerdings wird der Streik lediglich auf Sparflamme, mal hier mal dort aufflackernd, mit sehr geringer Beteiligung geführt. Im vergangenen Jahr beteiligten sich 10 bis 15 Prozent der Arbeiter an den Streiks.

Hintergrund ist der notwendige Versuch, die gewerkschaftliche Organisierung bei Amazon voranzutreiben. Die Amazon-Bosse weigern sich bisher, überhaupt Verhandlungen aufzunehmen mit der Gewerkschaft. Der Betrieb ist international für seine Gewerkschaftsfeindlichkeit bekannt, stellt damit aber überhaupt keine Ausnahme dar. Gewerkschaften sind die Kampforgane der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten, um die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter gegen sie durchzusetzen. Wenn sie in den Kampf treten, ziehen sie den Hass der Kapitalisten auf sich, deren wirtschaftliche Interessen völlig unvereinbar mit denen der Arbeiter sind. Diesem marxistischen Verständnis entgegengesetzt ist das Konzept der Klassenzusammenarbeit der jetzigen ver.di-Führung, ausgedrückt z. B. im Appell der ver.di-Unterschriftenkampagne: „Jeff Bezos – Behandeln Sie die Amazon-Mitarbeiter/innen fair!“ Stattdessen ist es nötig, eine klassenkämpferische Führung zu bilden, die Streikbruch verhindert, ein Bündnis mit den Arbeitern anderer Sektoren der Logistikbranche schmiedet und die gewerkschaftliche Organisierung der Amazon-Arbeiter durchsetzt, was harten Klassenkampf erfordert. Ein Erfolg würde zum Leuchtfeuer für die Arbeiter von Amazon und der Logistikbranche auf der ganzen Welt werden, die alle unter miserablen Arbeitsbedingungen und elender Lohndrückerei leiden.

Der weltweit größte Onlinehändler beschäftigt hierzulande rund 15 000 Arbeiter an neun Standorten und ist in den Wochen vor Weihnachten auf 10 000 weitere Arbeiter angewiesen, die danach wieder rausgeworfen werden sollen. An einem Tag läuft ein Arbeiter bis zu 20 Kilometer unter dauerndem Stress, um das viel zu hohe Arbeitspensum – elektronisch gesteuert und kontrolliert – zu schaffen. Die vom Konzern geschürte Hoffnung, eine feste Stelle zu bekommen, treibt die befristet eingestellten Arbeiter ständig über ihre Leistungsgrenze hinaus. Tatsächlich erhält jedes Jahr nur eine sehr geringe Anzahl von ihnen einen unbefristeten Vertrag. An allen Standorten beträgt der Krankenstand ständig bis zu 25 Prozent. Aus den USA wurde im Oktober der Fall des befristet eingestellten Arbeiters Jeff Lockhart Jr. bekannt gemacht, der im Januar 2013 während der Arbeit als Picker im Amazon-Warenlager in Virginia zusammenbrach und wenig später im Krankenhaus starb.

Um gegen den jetzigen Streik gewappnet zu sein, hat die deutsche Unternehmensführung einfach mehr Arbeiter befristet eingestellt, um Verluste durch den Streik sofort wettmachen zu können. Viele Aushilfskräfte werden jedes Jahr erneut angeheuert und so spart sich Amazon teilweise die Einarbeitung. Dieses Jahr wollen die Amazon-Bosse in Deutschland auch Flüchtlinge befristet einstellen und propagieren das neben einem Spendenaufruf als große menschliche Geste: „Amazon arbeitet eng mit der Arbeitsagentur zusammen, um Flüchtlingen schnell und unbürokratisch in der Weihnachtszeit eine saisonale Tätigkeit anzubieten“ (n-tv.de, 23. November). Wir sind dafür, alle Flüchtlinge bei gleichem Lohn für gleiche Arbeit in die Arbeiterklasse zu integrieren und sie zu Gewerkschaftsmitgliedern zu machen.

Die Bosse versuchen, die Arbeiter mit einem befristeten Vertrag als schwächeren Teil der Belegschaft gegen die stärkeren Teile der Belegschaft – die Festangestellten – auszuspielen. Ein Beispiel: Anfang letzten Jahres wurden in Bad Hersfeld und Leipzig unter Aufsicht des Managements bei den Arbeitern 1000 Unterschriften gegen Tarifverhandlungen gesammelt, um gegen den Streik zu mobilisieren. Die meisten Unterzeichner hatten einen befristeten Vertrag und hofften, mit ihrer Unterschrift eine feste Anstellung zu ergattern! Allein dies zeigt, dass viele befristet Eingestellte keine Hoffnung auf die Gewerkschaft setzen, was allerdings auch auf die meisten Festangestellten zutrifft. Um das zu ändern und den Streik zum Erfolg zu führen, muss die zentrale Aufgabe sein: Organisiert die Unorganisierten! Allen Aushilfsarbeitern muss ihr Recht auf Streik erklärt werden, und wenn dann gestreikt wird, sollen sie ein Teil der Streikposten sein, um für gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu kämpfen. Streikpostenketten müssen organisiert werden, die keinen Streikbruch zulassen und den Betrieb zum Stehen bringen. Der Kampf für volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben, muss aufgenommen werden, um die Kapitalisten daran zu hindern, unsere Klasse zu spalten. Für Festanstellungen aller Amazon-Arbeiter, die permanent beschäftigt sind!

Die Amazon-Bosse versuchen, die während eines Streiks in Deutschland anfallende Arbeit in ihre Versandzentren in anderen europäischen Ländern zu verlagern. Und das wird auch dann noch passieren, wenn es ver.di gelingt, die Arbeiter in Deutschland mehrheitlich in der Gewerkschaft zu organisieren. Ein neues gigantisches Verteilzentrum ist in der Nähe von Prag entstanden. Viele Bücher und andere Waren von deutschen Händlern werden bereits regulär über Polen und Tschechien abgewickelt. Deshalb ist eine Perspektive notwendig, auch Teile der internationalen Logistikkette (Paketauslieferer, LKW-Fahrer, Bahnfahrer, Hafenarbeiter, andere Transportarbeiter) in zukünftige Streiks einzubeziehen und internationale Solidarität zu erreichen. In Frankreich und Polen kam es im letzten Jahr bereits zu kleinen, aber wegweisenden Solidaritätsaktionen und Streiks zur Unterstützung der kämpfenden Arbeiter in Deutschland. Im Amazon-Lager im polnischen Poznan´ organisierte eine syndikalistische Gewerkschaft (Inicjatywa Pracownicza – Arbeiterinitiative) im Juni 2015 Bummelstreiks und Krankmeldungen in Solidarität mit Arbeitsniederlegungen in Deutschland (so wurden Lohnerhöhungen für ca. 2000 Beschäftigte in Poznan´ erkämpft). Weitergehende Aktionen sind nötig, z. B. sollte das Umleiten von Streikbrecherwaren nach Polen verhindert werden, indem LKW-Fahrer (v. a. von DHL) die Grenze dicht machen.

Ein Hindernis für machtvolle internationale Klassenkämpfe ist die Bürokratie, die an der Spitze der Gewerkschaften steht und politisch zumeist mit der SPD oder der Linkspartei verbunden ist. SPD und Linkspartei sind bürgerliche Arbeiterparteien, die ihre Basis in der Arbeiterklasse haben und deren Programm pro-kapitalistisch ist. Um die Arbeiter an die deutsche Kapitalistenklasse zu binden, schüren die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer unter den Arbeitern deutschen Nationalismus und den Glauben an Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft. So wird die Mär verbreitet, es könne gemeinsame Interessen von Arbeitern und Kapitalisten geben. In diesem Sinn predigt unter anderem Frank Bsirske (langjähriger Vorsitzender von ver.di und Mitglied der Grünen), dass es sich bei Amazon um „amerikanisierte Arbeitsbeziehungen“ handelt, und deutet damit an, dass deutsche Arbeitsverhältnisse irgendwie einen Deut besser wären.

Laut Herrn Bsirske „haben wir mit Amazon einen global agierenden Konzern, der das Tarifsystem ablehnt, bedroht und versucht, sich durch das Unterlaufen von Tarifverträgen Vorteile gegenüber den Wettbewerbern zu verschaffen. Das kann nicht im Interesse der Beschäftigten liegen und auch nicht im Interesse fair handelnder deutscher Wettbewerber. Das ist eine wirtschaftliche Fehlentwicklung“ (Berliner Zeitung, 24. Oktober 2014). Die angeblich fairen deutschen Kapitalisten sind ein Hirngespinst. Man denke nur an die zu über 75 Prozent privatisierte Deutsche Post DHL Group, die in den Niederlanden der größte private Briefzusteller geworden ist. Dort sortieren und verteilen Gelegenheitsarbeiter die Briefe von zu Hause aus, ohne Vertrag und Zuschläge, bezahlt nach erbärmlichem Stücklohn.

Die Märchen über faire deutsche Kapitalisten sollen verhindern, dass Arbeiter in Deutschland sich weltweit mit ihren Klassenbrüdern vereinen und gegen die Kapitalisten im eigenen Land kämpfen. Sie dienen dazu, den hiesigen Kapitalismus zu beschönigen, dessen „Fehlentwicklungen“ nur ausgebügelt werden müssten. Weiter feierte die ver.di-Führung im August 2014 die Einrichtung eines Aufsichtsrats bei Amazon in Bad Hersfeld, in dem zwei ver.di-Vertreter sitzen, als großen Sieg. Tatsächlich aber sind Aufsichtsräte Instrumente der Klassenkollaboration und die Gewerkschafter darin werden zu Co-Managern, die sich an der Ausbeutung der Arbeiter, in diesem Fall bei Amazon, beteiligen.

In Deutschland hat die Agenda 2010 der SPD/Grünen-​Regierung von Schröder/Fischer – durchgesetzt mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokraten – dafür gesorgt, dass Amazons Expansionspläne auf sehr fruchtbaren Boden fielen: Es gibt einen riesigen Niedriglohnsektor, alle Löhne bleiben konstant niedrig und Leiharbeit, Werkverträge und Auslagerungen von Firmenanteilen sind im großen Stil durchgesetzt worden. Der deutsche Imperialismus konnte sich im Zuge der verstärkten Ausbeutungsrate der Arbeiter Deutschlands in den letzten Jahren zum alleinigen Führer in der EU aufschwingen und auch mit Hilfe des Euro von der Ausbeutung insbesondere der südeuropäischen Arbeiter profitieren.

Durch die hauptsächlich vom deutschen Imperialismus gegenüber Griechenland und anderen Ländern durchgesetzten Sparmaßnahmen der EU sind Millionen von Menschen ins Elend getrieben worden. Unter anderem in Griechenland, Spanien und Rumänien wurden Rechte der Arbeiter auf Tarifverträge zum großen Teil ausgehebelt. Auch aus diesen Gründen wurde die imperialistische EU gegründet: Die Arbeiter Europas besser ausbeuten zu können und die europäischen Imperialisten gegenüber den USA und Japan konkurrenzfähiger zu machen. Wir Spartakisten standen von Anfang an in scharfer Opposition zur EU und wollen die Arbeiter für den Kampf um die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa gewinnen. Es ist notwendig, die EU durch internationalen Klassenkampf zu zerschlagen und die Kapitalisten zu enteignen. Nieder mit der EU und dem deutschen Imperialismus!

Der Streik bei der Deutschen Post im Sommer hatte das wichtige Ziel, einen Teil der heftigen, jahrzehntelangen Angriffe auf die Postarbeiter zurückzuschlagen. Die Angriffe stehen im Kontext von europaweiten Privatisierungen im Dienstleistungssektor, die von der EU durchgesetzt wurden. Konkret ging der Streik darum, die Anfang des Jahres ausgelagerten Paketdienste in 49 regionale DHL Delivery GmbHs wieder einzugliedern. Die dort angestellten Paketzusteller werden nicht nach dem Haustarif der Post bezahlt, sondern erhalten die 20 Prozent niedrigeren Löhne der Logistikbranche, an denen sich auch Amazons Bezahlung orientiert. Der Streik endete mit einer geringfügigen Lohnerhöhung, und direkt bei der Post arbeitende Paketzusteller werden erst mal nicht ausgegliedert, was aber nicht für neu Eingestellte gilt.

Die ver.di-Verhandlungsführerin Andrea Kocsis nannte den Abschluss ein „umfassendes Sicherungspaket für die Beschäftigten“. Nein! Der Abschluss war eine Niederlage, weil die Auslagerungen weitergehen und der Vorstandsvorsitzende Frank Appelt und seine Leute damit ein wesentliches Druckmittel haben, auch der Kernbelegschaft weiterhin an den Kragen zu gehen. Um die Kapitalisten der Post in der Frage von Auslagerungen in die Knie zu zwingen, hätte die Gewerkschaft den ganzen Betrieb von gut 150 000 Arbeitern lahm legen müssen: mit Streikpostenketten, die niemand überquert, und mit einer Perspektive der Ausweitung z. B. auf Amazon, aber auch auf Brief- und Paketzusteller wie UPS, Hermes und PIN. Zukünftig muss der Kampf für einen Branchentarifvertrag aufgenommen werden: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal in welcher Firma gepackt, versendet und ausgetragen wird!

Der Kampf für eine klassenkämpferische Gewerkschaftsführung muss mit dem Aufbau einer revolutionären, multiethnischen Arbeiterpartei verbunden werden, die in der Lage ist, letztendlich das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen und damit den Weg zum Sozialismus frei zu machen. Diese Partei wird deutsche Sektion einer wiedergeschmiedeten Vierten Internationale sein: Weltpartei der sozialistischen Revolution. Sieg dem Amazon-Streik

 

Spartakist Nr. 211

Spartakist Nr. 211

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