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Spartakist Nummer 207

März 2015

Nach Pariser Massaker: Kreuzzug für nationale Einheit

Frankreich: Nieder mit dem rassistischen „Krieg gegen Terror“

Nach den entsetzlichen Morden in Paris, die von Dschihadisten begangen wurden, reiste Bundeskanzlerin Merkel nach Frankreich, um demonstrativ den französischen Präsidenten François Hollande zu umarmen. Frankreichs Staatsoberhaupt von der Sozialistischen Partei (SP) verglich die Anschläge mit denen vom 11. September 2001, die in den USA zu einer erheblichen Erweiterung des staatlichen Repressionsarsenals und zur qualitativen Einschränkung demokratischer Rechte geführt hatten, und gab so zu erkennen, auf welche Weise Frankreichs herrschende Klasse aus den jüngsten Erschießungen Kapital zu schlagen beabsichtigt. In diesem Geiste haben die Herrscher der mörderischen imperialistischen Staaten am 18. Februar einen globalen Sicherheitsgipfel in Frankreich abgehalten. US-Außenminister John Kerry hat bereits Gespräche mit seinen europäischen Amtskollegen geführt, um erneut im Rahmen des „Kriegs gegen Terror“ mit aller Schärfe vorgehen zu können.

Die Regierung Hollande brachte nach den Morden in Paris ihren Repressionsapparat auf Hochtouren: Sie ließ eine Menge Leute verhaften wegen Äußerungen und Unmutsbekundungen, die sie als Befürwortung von Terrorismus einstufte, und schickte schwerbewaffnete Soldaten und Polizisten massenhaft auf die Straßen. Bei verstärkter Kriegshetze brachte Paris eine Flugzeugträgergruppe zur Bombardierung des Irak zum Einsatz und erhöhte so sein Engagement in dem US-geführten Krieg gegen den IS.

Die verschärften Maßnahmen beim Kreuzzug in Europa heizen eine wachsende rassistische Hysterie gegen dunkelhäutige Menschen und Immigranten weiter an. Rechtsradikale Parteien spucken Gift und Galle und haben in Frankreich, Britannien, Österreich und den Niederlanden bei Meinungsumfragen zugelegt. In Deutschland versammeln sich bei Kundgebungen der rassistischen, nationalchauvinistischen Pegida in Dresden bis zu 25 000 Menschen.

Imperialistischer Propaganda zum Trotz, hat der Islam kein Monopol auf Terrorismus. Die zahllosen Bomben- und Brandanschläge und Überfälle auf Flüchtlingswohnheime und Moscheen durch Nazis und andere Rassisten werden immer wieder vom Staat heruntergespielt. Nur zu konkret wird dies bei der Mordserie der NSU-Nazis, wo im Verlauf des Prozesses immer wieder Details der staatlichen Zusammenarbeit mit den Nazis oder deren faktische Abdeckung bekannt werden. Die multiethnische Arbeiterklasse in Deutschland muss mobilisiert werden gegen rassistische Pegida-Märsche und zur Verteidigung muslimischer, jüdischer und ethnischer Minderheiten!

Nachfolgend drucken wir die Übersetzung einer Erklärung unserer Genossen der Ligue trotskyste de France vom 17. Januar ab. Darin wird Vigipirate erwähnt, eine massive Mobilmachung von Polizei und Militär, die in Wohnvierteln von Minderheiten Schrecken verbreitet und Verkehrsknotenpunkte nach angeblichen Terrorverdächtigen durchkämmt.

* * * * *

Die kriminellen Anschläge islamischer Fundamentalisten in Paris auf die Satirezeitung Charlie Hebdo und bei einer Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in Porte de Vincennes – wobei in dem Laden gezielt Juden getötet wurden – sind Greueltaten, die wir ganz entschieden verurteilen. Doch das hält uns nicht davon ab, ebenso kategorisch gegen die von der kapitalistischen Regierung entfachte zynische Kampagne zur „nationalen Einheit“ einzutreten, mit der sie ihren „Krieg gegen Terror“ und ihre Verstärkung des Polizei- und Militärapparates des französischen Imperialismus propagiert. Wir sind gegen das Vigipirate-Sicherheitskonzept und gegen die von der bürgerlichen Propagandamaschinerie erzeugte kriegerische Stimmung. Ebenso lehnen wir alle Maßnahmen ab, die das polizeiliche Repressionsarsenal verstärken, wie auch die neuen bereits angekündigten oder sich in Vorbereitung befindenden „antiterroristischen“ Militärabenteuer. Die von den verräterischen Führern der Gewerkschaftsverbände unterstützten Aufrufe zur „Einheit“ der Klassen dienen nur dazu, die Arbeiterklasse und die Unterdrückten an ihre Unterdrücker zu ketten. Nieder mit Vigipirate!

Diese Kampagne der „nationalen Einheit“ wird die antimuslimische pogromistische Atmosphäre im ganzen Land weiter anheizen und den Aufstieg der Faschisten [der Nationalen Front] von Marine Le Pen und Konsorten vorantreiben. In den Tagen nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo kam es in mehr als zehn Städten in ganz Frankreich zu einer Reihe von Angriffen auf die muslimische Bevölkerung – Schüsse, Granaten, Wandschmierereien und an den Eingängen von Moscheen abgelegte Schweineköpfe. In diesem Sinn treffen die Anschläge von Paris auch die muslimische Bevölkerung, die sich sowieso schon im Fadenkreuz des kapitalistischen Staates befindet.

Die am 11. Januar von der SP-Regierung organisierte Demonstration in Paris war ein obszöner Ausdruck imperialistischer Arroganz und Scheinheiligkeit. Da waren die kapitalistischen Staatsoberhäupter zu sehen, die heute zu den brutalsten und barbarischsten Kriminellen der Welt gehören, von Merkel und Cameron bis zum israelischen Premierminister Netanyahu. Und im Mittelpunkt stand Hollande, der im eigenen Land eine brutale Politik von Austerität und Angriffen auf die Arbeiterklasse betreibt sowie Roma und andere Immigranten zu Tausenden aus dem Land jagt. Hollande ist der Führer des französischen Imperialismus, der auf eine mehr als hundertjährige Geschichte von Unterdrückung und Massakern an Millionen kolonialer Untertanen zurückblicken kann und erst kürzlich mörderische Interventionen in Irak, Libyen, der Zentralafrikanischen Republik und Mali in Gang gesetzt hat.

Die wiederholten militärischen Interventionen Frankreichs und anderer imperialistischer Mächte mit ihrer langen Geschichte von Zerstörung und Massakern haben beim Aufstieg der Islamisten im Nahen Osten – und auch in Frankreich – eine unmittelbare Rolle gespielt. Von Nordafrika bis zur Levante [östlicher Mittelmeerraum] verfolgt heute die französische Bourgeoisie und jede ihrer Regierungen eine Politik, die auf die Kolonialzeit zurückgeht, was auch für andere imperialistische Mächte wie die USA und Großbritannien gilt. Diese Imperialisten plündern die Rohstoffquellen ihrer ehemaligen Kolonien und hemmen deren wirtschaftliche Entwicklung, sie haben ganze Regionen in Schutt und Asche gelegt und dabei tödliche ethnische und religiöse Spaltungen angeheizt.

Die Nationalversammlung hat gerade fast einstimmig beschlossen, Frankreichs militärischen Einsatz im Irak gegen den IS zu verstärken. Die Imperialisten haben nie die geringsten Skrupel, solch reaktionäre Kräfte zu unterstützen, wenn sie der Meinung sind, dies könnte ihren miesen Interessen dienen. Drei Jahre lang wurde die „syrische Revolution“ vor allem durch Frankreich unterstützt, sogar als die Zahl reaktionärer Dschihadisten immer weiter zunahm. Jetzt haben sich zynischerweise die französischen Herrscher gegen das Monster gewendet, das sie selbst miterschaffen haben.

Verantwortlich für das blutige Chaos, in das diese Region gestürzt wurde, sind die Imperialisten. Sie sind die schlimmsten Feinde der Menschheit, und jeder Schlag gegen die imperialistischen Streitkräfte und ihre Bodentruppen würde daher, auch wenn er von so widerlichen Kräften wie dem IS kommt, den Interessen der internationalen Arbeiterklasse dienen. Marxisten stehen militärisch auf der Seite des IS gegen den Imperialismus, ohne diesen Reaktionären, die unsere erklärten Feinde sind, auch nur die geringste politische Unterstützung zu geben. Nieder mit der Intervention des amerikanischen und französischen Imperialismus im Irak! Französische Truppen raus aus Nahost und Afrika!

Die kapitalistischen Herrscher benutzen die Gräueltat von Vincennes, um sich als Verteidiger der Juden aufzuspielen. Was für eine Heuchelei! Zur schmutzigen Vergangenheit der französischen Bourgeoisie in Bezug auf die Juden gehört die Dreyfus-Affäre wie auch die Deportation von mehr als 75 000 Juden – Männer, Frauen, Kinder und ältere Menschen – in die Nazi-Todeslager.

Seit 2012, als Mohamed Merah drei jüdische Schulkinder und ihren Lehrer tötete, hat die Zahl der Juden, die aus Frankreich auswandern, stark zugenommen. Die Bourgeoisie benutzt diesen Anschlag, um die gesamte Bevölkerung der Immigrantenvorstädte als widerliche Antisemiten hinzustellen, während sie die terroristischen Aktionen des Staates Israel gegen die Palästinenser unterstützt. All das benutzen fundamentalistische Prediger und faschistoider Abschaum wie Dieudonné/Soral, um in den Vorstädten reaktionäre antijüdische Vorurteile zu schüren, indem sie alle Juden mit den mörderischen zionistischen Herrschern gleichsetzen.

In Frankreich leben mehr Juden und Muslime als in jedem anderen europäischen Land. Die französische Bourgeoisie bedient sich der „Teile-und-herrsche“ Politik, um von dem Konflikt zwischen Juden und Arabern im Nahen Osten zu profitieren und auch um innerhalb der Arbeiterklasse hier in Frankreich Spaltungen zwischen ihren verschiedenen Bestandteilen zu säen: zwischen Menschen von sogenannter „französischer Abstammung“, Juden, Menschen nordafrikanischer oder schwarzafrikanischer Abstammung. Die Arbeiterbewegung muss Juden, Muslime, Homosexuelle, Frauen und alle Unterdrückten gegen Attacken von Reaktionären und Faschisten sowie gegen die Angriffe des kapitalistischen Staates verteidigen.

Die Pariser Demonstration war ein Meer von Plakaten „Ich bin Charlie“. Der Anschlag auf Charlie Hebdo war ein verabscheuenswürdiges Verbrechen. Doch wir sind nicht „Charlie“. Seit dem 11. September 2001 hat sich Charlie Hebdo in der islamophoben bürgerlichen Presse eine Nische geschaffen. Vor dem Hintergrund zunehmender rassistischer Kampagnen gegen die Bevölkerung nordafrikanischer und afrikanischer Abstammung und unter dem Deckmantel des Kampfes gegen islamischen Fundamentalismus hat Charlie Hebdo regelmäßig antimuslimische Karikaturen und Artikel veröffentlicht. Auf der Titelseite der Ausgabe, die am Tag der Morde erschien, wurde für den letzten rassistischen und islamophoben Erguss des Schriftstellers Michel Houellebecq geworben. Charlie Hebdo veröffentlichte auch 2006 provokativerweise die rassistischen dänischen Karikaturen, darunter diejenige, bei der im Turban des Propheten Mohammed eine Bombe versteckt ist. Wir verurteilten diese Karikaturen, die nur dazu dienen, den Staat und die Faschisten in ihren Angriffen auf die Unterdrückten zu bestärken. [Siehe „Rassistische Karikaturen provozieren Zorn islamischer Fundamentalisten“, Spartakist Nr. 162, Frühjahr 2006.]

Während die französische Bourgeoisie und ihre Regierung das Recht auf freie Meinungsäußerung für islamophobe Provokationen feiern, wird dieses Recht jedem verwehrt, der – selbst in einer privaten Unterhaltung oder auf Facebook – eine Meinung äußert, die nicht mit den „republikanischen Werten“ der Regierung übereinstimmt. Tatsächlich kann man dafür nach dem im November verabschiedeten Gesetz von Cazeneuve [Innenminister seit April 2014] ins Gefängnis wandern. 200 Schüler wurden unter anderem wegen Nichtbeachtung der nationalen Schweigeminute erfasst; etwa 40 von ihnen wurden der Polizei gemeldet. Mehr als 70 Personen wurden bisher nur aufgrund einer Meinungsäußerung wegen „Befürwortung terroristischer Handlungen“ verhaftet, darunter der antijüdische Demagoge Dieudonné. In Lille droht drei Arbeitern im öffentlichen Dienst die Entlassung, weil sie die Schweigeminute nicht beachtet haben. Verhöre und Prozesse wurden beschleunigt und mehrere Personen bereits verurteilt – eine davon zu vier Jahren Gefängnis. Die Angeklagten können für eine strafbare Äußerung eine hohe Geldstrafe und bis zu fünf Jahre Gefängnis erhalten und für einen beleidigenden Text, den sie ins Internet gestellt haben, bis zu sieben Jahre. Weg mit diesen Anklagen! Freiheit für die Verhafteten!

Nach den Anschlägen ist [Premierminister Manuel] Valls jetzt dabei, die ohnehin schon umfangreichen Polizeibefugnisse, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, noch mehr auszuweiten, unter anderem das fortgesetzte Saugen von Daten aus dem Internet (jetzt in aller Legalität). 10 500 Soldaten und mehr als 100 000 Gendarme und Polizisten sind bereits im Einsatz. Zahllose Demonstranten applaudierten am Sonntag [11. Januar] den Bullen. Doch Bullen sind die Wächter des Kapitals; ihre Aufgabe besteht darin, die rassistische kapitalistische Ordnung zu schützen. Sie sind Feinde der Arbeiterklasse und der Unterdrückten. Sie verfolgen dunkelhäutige Jugendliche, machen Jagd auf Arbeiter ohne Ausweis und sind Streikbrecher für die Bosse. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des Staates, der die herrschende Kapitalistenklasse verteidigt, wie sich zum Beispiel bei der Ermordung mehrerer hundert algerischer Arbeiter durch die Polizei am 17. Oktober 1961 in Paris zeigte.

In Frankreich, wo nach wie vor die Bourgeoisie und ihre Kultur von Grund auf katholisch sind, ist der Islam die Religion einer Minderheit. Als Marxisten sind wir entschiedene Befürworter der Trennung von reaktionärer katholischer Kirche und Staat. Genau das bedeutet Säkularismus, der im heutigen Frankreich jedoch inzwischen ein Codewort ist für die Stigmatisierung der Muslime.

Die mörderischen islamischen Fundamentalisten in französischen Städten von Merah bis Nemmouche und heute die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly sind das unmittelbare Ergebnis davon, dass Millionen Menschen als französische Bürger zweiter Klasse das Opfer schonungsloser rassistischer Diskriminierung sind und unter Gettoisierung und Entfremdung leiden. Der Einfluss des islamischen Fundamentalismus entwickelte sich in den Gettos nach der konterrevolutionären Zerstörung des degenerierten Arbeiterstaates Sowjetunion 1991/92 und aufgrund der jahrzehntelangen Verratspolitik der chauvinistischen Führer der Arbeiterbewegung. Insbesondere weigerten sich die Führer der organisierten Arbeiterbewegung, dunkelhäutige Jugendliche zu verteidigen, als diese 2005 aus Verzweiflung mit einer Revolte in den Vorstädten auf den täglich zunehmenden rassistischen Terror und die Arbeitslosigkeit reagierten.

Entgegen der Kampagne für „nationale Einheit“ sagen wir Marxisten, dass nur die organisierte Arbeiterklasse, die sich ihrer historischen Rolle zur Befreiung der unterdrückten Massen bewusst ist, der Herrschaft der Kapitalistenklasse und ihrem Staat ein Ende setzen kann. Die Arbeiterklasse kann in ihrem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung nur erfolgreich sein, wenn sie kompromisslos die Unterdrückten und die demokratischen Rechte verteidigt und sich gegen jegliche imperialistische Gräueltat „ihrer“ herrschenden Kapitalistenklasse im eigenen Land wie im Ausland stellt. Unsere Aufgabe ist es, eine revolutionäre proletarische Partei auf der Grundlage des marxistischen Verständnisses aufzubauen, dass das gesamte verrottete kapitalistische System durch Arbeiterrevolution gestürzt werden muss.

 

Spartakist Nr. 207

Spartakist Nr. 207

März 2015

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