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Spartakist Nummer 161

Winter 2005/2006

Frankreich: Freiheit für die verhafteten Jugendlichen!

Rassistische Bullen provozierten massive Jugendrevolte

Der folgende Artikel basiert auf einem Flugblatt, das unsere Genossen von der Ligue trotskyste de France (LTF) am 5. November 2005 herausgaben.

Am 27. Oktober wurden zwei Jugendliche afrikanischer Abstammung, Ziad Benna und Bouna Traoré, in einem Umspannwerk, wo sie vor einer Polizeirazzia in Clichy-sous-Bois bei Paris Zuflucht gesucht hatten, durch Stromschlag getötet. Über eine Woche lang standen Immigranten- und Minderheitenghettos und -wohnviertel in Flammen. Tausende von Autos sowie einige Supermärkte und Geschäfte brannten aus. Der beispiellose Aufruhr der Vorstadtghettos flackerte auch im Stadtzentrum von Paris auf und weitete sich auf Vorstädte in ganz Frankreich aus, und darüber hinaus. Autos wurden vor dem Hauptbahnhof in Brüssel und in einem Arbeiterviertel von Berlin in Brand gesetzt.

Die französische Regierung heizt die Empörung weiter an. Über die brodelnden Ghettos wurde der Ausnahmezustand verhängt mit weitreichenden Polizeimaßnahmen. Etwa 10 000 Polizisten wurden eingesetzt und mehr als 1200 Jugendliche wurden verhaftet, von denen einige bereits zu monatelangen Haftstrafen verurteilt wurden. Wir fordern die sofortige Freilassung aller inhaftierten Jugendlichen und das Fallenlassen aller Anklagen! Nieder mit dem rassistischen Polizeiterror gegen Jugendliche in den Immigrantenghettos! Wir lehnen auch Vigipirate ab, einen Plan, der gemeinsame rassistische Patrouillen von Polizei und Armee auf Bahnhöfen, Metrostationen und Flughäfen vorsieht und der jetzt schon seit fünf Monaten auf „Alarmstufe rot“ läuft.

Zum Ausbruch kam es erstmals in Clichy-sous-Bois, einem heruntergekommenen Ghetto mit einer Bevölkerung, die hauptsächlich aus Immigranten besteht und aus französischen Jugendlichen, die von Immigranten abstammen. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt dort bei 25 Prozent; in Wirklichkeit sind wahrscheinlich über 50 Prozent der Jugendlichen dort arbeitslos. Kein Wunder, dass Clichy explodierte. Die Bourgeoisie hat diesen Jugendlichen nicht viel anzubieten außer Polizeipatrouillen, Gefängnis und Tod – in manchen Gefängnissen haben an die 80 Prozent der Insassen einen muslimischen Hintergrund, während Muslime weniger als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs ausmachen.

Eine jüngste soziologische Untersuchung dokumentiert „Apartheid an Schulen“, wobei mittlerweile rassistische Absonderung an weiterführenden Schulen noch ausgeprägter ist als bei der Wohnungssuche. Dementsprechend haben diese Jugendlichen wenig bis gar keine Aussicht auf einen Schulabschluss oder eine Anstellung. Und das hat sich im Laufe der letzten 20 Jahre immer weiter verschlimmert, unter „linken“ und rechten Regierungen gleichermaßen. Rassismus gehört zum Kapitalismus, und in Frankreich ist er auch in der kolonialen Vergangenheit verwurzelt: Die französische Bourgeoisie ist immer noch wütend über ihre Niederlage im algerischen Befreiungskampf vor über 40 Jahren. Ein konsequenter Kampf gegen rassistische Unterdrückung erfordert einen Kampf zum Sturz des gesamten kapitalistischen Systems.

Revolten wie diese sind Ausdruck der Verzweiflung arbeitsloser Jugendlicher, die so sehr an den Rand gedrängt sind, dass sie aller Mittel beraubt sind, durch die sie ein Faktor sein können, der gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Bei den Unruhen kamen auch Fälle wahlloser Angriffe auf Personen vor, die sich zufälligerweise zur falschen Zeit am falschen Ort befanden, und es wurden die Wohnviertel verwüstet, in denen diese Jugendlichen leben müssen. Doch trotz enormen Energieaufwandes und erlittener Zerstörungen ändern diese Ausbrüche für gewöhnlich nichts. Das macht es nur noch wichtiger, dass Arbeiter für bessere Lebensbedingungen der Bewohner dieser Viertel kämpfen. Die Arbeiterklasse ist die soziale Kraft, die das objektive Interesse und die Macht hat, dieses ganze System kapitalistischer Ausbeutung, des Rassismus und des Elends zu stürzen und einen Arbeiterstaat auf der Grundlage einer Planwirtschaft aufzubauen.

Aulnay-sous-Bois ist eine weitere Stadt im 93. Département, einer zum Großteil von der Arbeiterklasse und von Immigranten bewohnten Region außerhalb von Paris, die bei den jüngsten Unruhen eine wichtige Rolle spielte. In Aulnay gibt es auch eine große Citroën-Autofabrik, in der junge Arbeiter, Nachkommen vor allem von nord- und westafrikanischen Immigranten, im März dieses Jahres einen erfolgreichen Streik durchgeführt haben. Tausende Jugendliche aus der Gegend arbeiten beim nahe gelegenen Flughafen Charles de Gaulle, einem der größten in Europa. Die Macht der multiethnischen Arbeiterschaft der Region, Franzosen und Immigranten, kann entfesselt werden zum Kampf gegen die schrecklichen Bedingungen in den Ghettos und für die Verteidigung der unterdrückten Jugendlichen. Doch dazu bedarf es eines unnachgiebigen Kampfes gegen die chauvinistische Gewerkschaftsbürokratie, die die Kämpfe der Arbeiterklasse in Schranken hält und verrät, weil sie im Grunde die Sorge der Bourgeoisie teilt, den französischen Kapitalismus gegenüber seinen internationalen Rivalen „konkurrenzfähiger“ zu machen.

Der brutale Angriff der Regierung auf eine ganze Generation junger Menschen zielt darauf ab – vor dem Hintergrund wütender Angriffe auf das gesamte Proletariat und zunehmenden Widerstands der Arbeiterklasse –, rassistische Spaltungen innerhalb der multiethnischen Arbeiterklasse dieses Landes zu schüren. Nach dem verlorenem Streik der Seeleute von der Korsikafährgesellschaft SNCM, dem die CGT-Gewerkschaftsbürokratie in den Rücken gefallen war (siehe „Corsica and Class Struggle in France“ [Korsika und der Klassenkampf in Frankreich], Workers Vanguard Nr. 857, 28. Oktober), versucht die Regierung jetzt mit Hilfe einer gerichtlichen Anti-Streik-Verfügung einen bereits einen Monat dauernden Streik von Arbeitern des öffentlichen Nahverkehrs von Marseille zu brechen. Für den 21. November hatten alle wichtigen Gewerkschaften der Eisenbahngesellschaft SNCF zum Streik aufgerufen. Das macht es für die organisierte Arbeiterbewegung umso dringlicher, gegen den rassistischen Angriff der Regierung Widerstand zu leisten. Für die Arbeiterklasse ist es eine lebenswichtige Frage, im gemeinsamen Kampf die Angriffe auf ihren Lebensstandard und auf Sozialleistungen zurückzuschlagen. Wie die LTF in Le Bolchévik (September 2005) schrieb:

„Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Die gesamte Arbeiterbewegung ... muss zur Verteidigung ihrer verwundbarsten Klassenbrüder mobilisieren, vor allem der Arbeiter aus Nord- und Westafrika, die einen strategisch wichtigen Bestandteil des Proletariats in diesem Land darstellen, sei es auf dem Bau, in der Autoindustrie oder bei der Stadtreinigung von Paris. Notwendig ist eine Kampagne zur gewerkschaftlichen Organisierung von Aushilfskräften, Zeitvertragsarbeitern und Arbeitern mit ,Tarifverträgen für Neueingestellte‘ [eine neue Art von Tarifverträgen unter dem gewerkschaftlichen Standard]. Weg mit Vigipirate! Weg mit rassistischen Ausweisungen und mit Charterflügen zum Zweck der Abschiebung! Volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben! Französische Truppen raus aus Afrika!“

Nachbarschaftspolizei und Bereitschaftspolizei: Wachhunde der bürgerlichen Ordnung

Die Gewerkschaftsbürokraten und die reformistischen Parteien sollten wegen ihrer Weigerung, gegen die rassistischen Angriffe in Clichy-sous-Bois und anderen Wohnvierteln zu protestieren, verurteilt werden. Sie beschweren sich vor allem darüber, dass Innenminister Nicolas Sarkozy ein Wahnsinniger ist, der nur seine Karriere als zukünftiger Präsident im Auge hat. Damit unterstützen sie indirekt seinen Rivalen, Ministerpräsident Dominique de Villepin (einen engen Mitstreiter von Präsident Jacques Chirac), der die Polizeirepression sogar noch verschärft hat, seit er nach den ersten Tagen des Aufruhrs die Sache selbst in die Hand nahm. Die Reformisten werfen Sarkozy vor, dass er die Bereitschaftspolizei zu Überraschungsangriffen in die Minderheitenghettos geschickt hat. Anstelle von Sarkozys Überfällen empfehlen sie aus der ach so guten alten Zeit die Nachbarschaftspolizei, die von der vergangenen Volksfrontregierung unter Lionel Jospin von der Sozialistischen Partei (PS) und Marie-George Buffet, dem gegenwärtigen Chef der Kommunistischen Partei (PCF), eingerichtet wurde. Die PCF und Lutte ouvrière (LO), die mit der amerikanischen pseudotrotzkistischen Organisation Spark [Funke] verbunden ist, haben Sarkozy sogar dafür angegriffen, dass er die Anzahl der Polizisten, die in den Ghettos täglich Dienst haben, reduziert hat. LO schrieb in lutte ouvrière (8. Juli):

„In völligem Gegensatz zu seinen Versprechungen betrieb der Minister Sarkozy in seinem Zuständigkeitsbereich dieselbe Politik wie seine Kollegen: Zahlenspielereien, um Kürzungen zu verschleiern, Schließung von Polizeiwachen, fehlende Haushaltsmittel.“

Die „police de proximité“ war ein Lieblingsprojekt von Jean-Pierre Chevènement, damals Polizeiminister in der Jospin-Regierung, der noch immer bei Immigranten ohne Papiere und bei Ghettojugendlichen, die er gerne als „sauvageons“ (kleine Wilde) bezeichnete, allgemein verhasst ist. Er war es, der ein Gesetz auf den Weg brachte, das es erlaubt, jeden unter Anklage zu stellen, der Arbeitern ohne Papiere hilft. Dass PS und PCF auf Jospins und Chevènements „police de proximité“ zurückgreifen, ist ein äußerst bedrohliches Vorzeichen für Immigranten und Jugendliche. Es waren Jospins Bullen, die 1998 Habib Ould Mohamed in Toulouse töteten und damit im Viertel Le Mirail einen Aufstand auslösten, der drei volle Tage andauerte und durch ein massives Aufgebot an Bereitschaftspolizei niedergeschlagen wurde, genau wie es jetzt Sarkozy und de Villepin machen. Und dann tötete eine Nachbarschaftsstreife im April 2000 Ryad Hamlaoui in der Nähe von Lille und provozierte damit eine weitere Welle des Aufruhrs.

Die PCF gab eine gesonderte Stellungnahme zu Clichy heraus (l’Humanité, 4. November), in der sie fordert: „Stellt die Polizei in den Dienst der ganzen Nation, was Demokratisierung, Ausbildung, Ansässigkeit in den Wohnvierteln und angemessene Finanzierung bedeutet.“ Der Leitartikel von LO zu Clichy erwähnt Immigration oder Rassismus nur einmal, um davor zu warnen, dass Sarkozys Eskapaden „die repressive Haltung bei der Polizei und den Rassismus bei vielen ihrer Mitglieder weiter verstärken“ werden. Als ob man mit einem anderen Bullenminister und durch die Entfernung einiger schwarzer Schafe aus dem Polizeidienst eine „gute“ republikanische Polizei erschaffen könnte. All diese Reformisten versuchen, das Ansehen der Bullen bei den unterdrückten Jugendlichen wiederherzustellen, und schüren so tödliche Illusionen in die bürgerliche Republik. Die Polizei kann nicht zum Wohle der Bevölkerung reformiert werden. Diese Lüge von ihrer Reformierbarkeit zu verbreiten ist genau das, was Reformisten von Revolutionären unterscheidet. Wie bei den anderen Formationen bewaffneter Menschen, die den Kern des Staates ausmachen (Gefängniswärter, Armee), ist ihre Funktion der Schutz des Privateigentums der Kapitalisten an den Produktionsmitteln. Der kapitalistische Staat hat ein gesetzliches Waffenmonopol zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems: Die Polizei ist der Wachhund der Bourgeoisie, Polizisten sind nicht „Arbeiter in Uniform“. Polizei, Gefängniswärter raus aus den Gewerkschaften!

PCF, LCR: Architekten einer neuen „Volksfront“

In ihrer Erklärung wirft die PCF Sarkozy vor: „Die Regierung hat gezeigt, dass sie die öffentliche Ordnung nicht garantieren kann.“ PS und PCF benutzen die gegenwärtigen Unruhen dazu, ihr ziemlich angekratztes Renommee aufzupolieren, und bieten sich als diejenigen an, die eher dazu imstande sind, in den Immigrantenvierteln für Ordnung zu sorgen, und bei denen sich somit die Bourgeoisie darauf verlassen kann, dass sie den bürgerlichen Staat reibungsloser regieren.

Im Grunde geht es der PCF darum, eine neue Koalition auf die Beine zu stellen, die auch bürgerliche Parteien wie die Grünen, Chevènement-Anhänger und radikale Linke umfasst, um die Wahlen 2007 zu gewinnen. Und die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) sowie LO (wenn auch eher indirekt) helfen ihnen dabei. Die „Linken“, darunter die PCF und die Pseudotrotzkisten von LCR und LO, hatten am 8. November in Paris eine gemeinsame Plattform mit zwei kleinen chevènementistischen bürgerlichen Parteien, MARS und MRC, angeblich gegen die Privatisierung des Elektrizitätsmonopols EDF. So schüren LCR und LO Illusionen, dass der kapitalistische Angriff durch Zusammenarbeit mit kapitalistischen Parteien zurückgeschlagen werden kann!

Nieder mit dem rassistischen Feldzug „gegen den Terrorismus“!

Anfang Oktober streikten am Flughafen Charles de Gaulle die Gepäckabfertiger für die Festanstellung von Arbeitern mit zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen und für höhere Löhne (nach der Privatisierung von Air France unter der vorigen Regierung Jospin/Buffet). Der Streik wurde durch die Regierung gebrochen, die sich Vigipirate und eine angebliche terroristische Bedrohung durch nicht sortierte Gepäckstücke zunutze machte. Das zeigt ganz konkret, was wir seit Jahren sagen: Vigipirate hat alle Immigranten und Minderheiten im Visier und auch die Arbeiterklasse insgesamt. Es könnte in den nächsten Wochen wieder angewendet werden, wenn ein größerer Streik bei der französischen Eisenbahn beginnt.

LO hat sich von Anfang an geweigert, gegen Vigipirate aufzutreten, und dies geht Hand in Hand mit ihrer führenden Rolle bei der rassistischen Kampagne, junge Frauen, die das Kopftuch tragen, von der Schule auszuschließen. Der Islam ist in Frankreich eine Religion der Unterdrückten und der Ghettos. Das Kopftuch repräsentiert ein reaktionäres soziales Programm, das Frauen in sklavenähnlicher Position an das Heim bindet. Der Schulausschluss muslimischer Mädchen kann nur ihre Isolation und ihre Unterdrückung verstärken und Rassismus gegen alle Immigranten schüren. Wir sind gegen diese rassistischen Kampagnen und verteidigen die Mädchen, die ein Kopftuch tragen, gegen den bürgerlichen Staat. LO dagegen begrüßte Chiracs Kopftuchverbot, ein rassistisches Gesetz, das ein Teil der täglichen Schikanen gegen Muslime ist, und LO-Sprecherin Arlette Laguiller marschierte am 6. März 2004 auf einer Demonstration von Frauen aus Immigrantenvierteln sogar Arm in Arm mit Nicole Guedj (der damaligen Staatssekretärin für den Gefängnisbau von Chiracs Partei UMP)!

 

Spartakist Nr. 161

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