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Spartakist Nummer 167 |
Sommer 2007 |
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Die Russische Revolution von 1917 Von der Februarrevolution zu den Julitagen Erster Teil Spartakist-Jugend Wir drucken im Folgenden den zur Veröffentlichung redigierten ersten Teil eines Schulungsvortrags des Genossen T. Marlow aus einer Schulungsreihe über Leo Trotzkis Die Geschichte der russischen Revolution (1932), die im Januar 2006 als Jungkaderschulung der Spartacist League/U.S. abgehalten wurde.
Im Laufe des Jahres 1917 trat Leo Trotzki, zusammen mit W. I. Lenin Führer der Oktoberrevolution, zur bolschewistischen Partei über. Trotzki hatte bei seiner Rückkehr nach Russland im Mai 1917 gegenüber den Parteiführern seine politische Solidarität mit den Bolschewiki erklärt. Nachdem er die Fusion der Zwischenbezirksorganisation Vereinigter Sozialdemokraten (bekannt als die Meschrajonka) mit der bolschewistischen Partei ermöglicht hatte, trat Trotzki im Zuge dieser Fusion im Juli formell den Bolschewiki bei.
Trotzki gab dem ersten Kapitel seiner Geschichte der russischen Revolution den Titel Die Eigenarten der Entwicklung Rußlands. Seine Zusammenfassung der Februarrevolution von 1917 findet sich in Das Paradoxon der Februarrevolution. Diese beiden Themen tauchen immer wieder auf im Laufe der Ereignisse von 1917 in Russland, die in der Oktoberrevolution gipfelten. Ersteres geht auf Trotzkis brillante Prognose Ergebnisse und Perspektiven (1906) zurück, die nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Machtergreifung des russischen Proletariats an der Spitze der Bauernmassen vorhersagte. Dieses Werk, das er 1904 begonnen hatte, schloss er kurz nach der Revolution von 1905 ab, die das morsche Gebäude der zaristischen Monarchie bis ins Mark erschütterte, sie aber nicht stürzte. Diese Aufgabe sollte noch 12 Jahre auf ihre Erledigung warten müssen, was das zweite von Trotzkis Themen ist. Ihre Vollendung durch die Eroberung der Staatsmacht durch die Bolschewiki erfolgte nur acht Monate nachdem die Februarrevolution Zar Nikolaus Romanow und seine Dynastie abgesetzt hatte.
Ein entscheidendes Ergebnis von 1905 war die Schaffung der Sowjets (Arbeiterräte). Diese wurden von den aufständischen Arbeitern spontan errichtet und keine der linken Parteien hatte dazu aufgerufen, auch nicht die Bolschewiki. Ihre Bedeutung als die demokratischste und flexibelste Form einer Massenorganisation der Arbeiterklasse wurde schnell deutlich. Sowjets tauchten wieder 1917 während der Februarrevolution auf, mit einem wichtigen Unterschied nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Soldaten waren in den Sowjets vertreten. Wie Trotzki in seiner Geschichte bemerkt:
Indes entstanden die Sowjets dank der Tradition von 1905 wie aus der Erde gestampft und waren sofort unvergleichlich mächtiger als alle anderen Organisationen, die später versuchten, mit ihnen zu rivalisieren (Munizipalitäten, Kooperative, teils auch Gewerkschaften). Was die Bauernschaft betrifft, eine ihrer Natur nach zersplitterte Klasse, so war sie gerade infolge des Krieges und der Revolution mehr denn je organisiert: der Krieg versammelte die Bauern in der Armee, und die Revolution verlieh der Armee einen politischen Charakter! Nicht weniger als 8 Millionen Bauern waren in Kompanien und Schwadronen vereinigt, die sofort ihre revolutionären Vertretungen geschaffen hatten und durch deren Vermittlung jeden Moment auf einen telephonischen Anruf hin auf die Beine gebracht werden konnten.
Die Politisierung der Bauern im Wesentlichen getrieben von ihrem Verlangen nach einer durchgreifenden Agrarrevolution war entscheidend. Ohne die offene oder stillschweigende Unterstützung der Bauern konnte die proletarische Revolution nicht auf Erfolg und ein Überleben im rückständigen Russland mit seiner weit überwiegend ländlichen Bevölkerung hoffen.
Krieg und Revolution
Die Härten des Ersten Weltkriegs legten tatsächlich den Grundstein für den Sturz der Monarchie. Trotzkis Kapitel über den Zar und die Zarin ist eines meiner liebsten: Gelinde gesagt war Nikolaus ein unterbelichteter Spross des Familienstammbaums, völlig isoliert und ohne Interesse an den Vorgängen in seinem Lande (mit Ausnahme seiner großzügigen Unterstützung für die Schwarzhunderter-Pogromisten, über deren Aktivitäten er sich begierig Berichte einverleibte). Aber mit oder ohne Zutun der Dynastie hätte Russland eine Beteiligung an dem interimperialistischen Konflikt nicht vermeiden können. Trotzki ordnete die Teilnahme Russlands am Ersten Weltkrieg irgendwo zwischen der Frankreichs (einer voll ausgebildeten imperialistischen Macht) und der Chinas (mit seiner gegenüber den Großmächten unterwürfigen Kompradorenbourgeoisie) ein. In seiner Geschichte fügt er hinzu:
Rußland bezahlte damit das Recht, mit fortgeschrittenen Ländern im Bunde zu sein, Kapital einzuführen und Prozente dafür zu zahlen, das heißt im wesentlichen das Recht, eine privilegierte Kolonie seiner Verbündeten zu sein; aber gleichzeitig auch das Recht, die Türkei, Persien, Galizien, überhaupt alle Länder, die schwächer und rückständiger waren als es selbst, zu knebeln und zu plündern.
Das Kriegsglück war Russland nicht zugetan. Es gab einige Erfolge gegen die Österreicher, doch war dies, wie Trotzki bemerkt, weniger den Fähigkeiten der Russen zu verdanken, denn: Die auseinanderfallende habsburgische Monarchie hatte schon längst Bedarf an einem Totengräber, ohne dabei von ihm hohe Qualifikationen zu verlangen.
Als es gegen die Deutschen ging, lief es für Russland ziemlich schlecht. Im August 1915, also ein Jahr nach Kriegsbeginn, berichtete General Russki dem Ministerrat: Die modernen Forderungen der Kriegstechnik gehen über unsere Kraft. Jedenfalls können wir es mit Deutschland nicht aufnehmen (zitiert in Trotzkis Geschichte). Zwei Jahre später, im Gefolge des revolutionären Aufruhrs und der Repression der Julitage und des Scheiterns der Junioffensive des damaligen Kriegsministers Kerenski, sollte dieser selbe General schimpfen: Den alten Fahnen folgten die Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen gebracht? Dazu, daß die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben. Die altersschwachen Generäle der Bourgeoisie legten Russlands Zusammenbruch den Bolschewiki zur Last, die sie skandalöserweise als bezahlte Handlanger Deutschlands verleumdeten.
Nach Trotzkis Schätzungen waren an die 15 Millionen Männer, vor allem Bauern, für den Krieg mobilisiert worden, von denen 5,5 Millionen als getötet, verwundet oder gefangen galten; etwa 2,5 Millionen waren getötet worden. Trotzki fasste die Lage folgendermaßen zusammen: ,Alles für den Krieg! sagten Minister, Deputierte, Generale, Journalisten. ,Ja, begann der Soldat im Schützengraben zu grübeln, ,alle sind bereit bis zum letzten Tropfen
meines Blutes zu kämpfen.
Die außerordentlich hohen Gefallenenzahlen waren sowohl der inkompetenten militärischen Führung als auch dem allgegenwärtigen Mangel an Nachschub geschuldet, einschließlich Waffen und Munition und sogar Stiefeln. Währenddessen machten die Kapitalisten riesige Profite mit dem Verkauf von (oftmals minderwertigen) Waren an die Regierung, für deren Bezahlung die Arbeiterklasse ausgepresst und immer mehr Schulden bei der City of London und an der französischen Börse gemacht wurden. Rodsjanko, Kammerherr unter Nikolaus II., später Präsident der Staatsduma (russisches Parlament) und einer der Führer der russischen Großbourgeoisie, wurde reich durch die Lieferung von qualitativ schlechtem, im Grunde unbrauchbarem Holz für Gewehrkolben. Wie man sieht, hat Halliburton eine lange Reihe von Vorgängern! Trotzki spricht von dem goldenen Regen von oben, der die üppigen Feste der Reichen finanzierte, während die unteren Klassen selbst nach Brot verzweifelt suchten.
Was der Dynastie das Rückgrat brach, war, dass die Armee nicht weiter zu kämpfen bereit war und die Einheiten in zunehmendem Maße entweder die Front in Massendesertionen verließen oder Befehle verweigerten. Ein eindringliches Zeichen war die Weigerung der Kosakenregimenter in Petrograd, eine Arbeiterdemonstration im Stadtteil Wyborg dem proletarischen Herzen Petrograds niederzuschlagen. Wie Trotzki in der Geschichte erzählt:
Mit der Brust der Pferde sich den Weg bahnend, dringen zuerst die Offiziere in die Menge ein. Hinter ihnen, in der ganzen Breite der Straße, reiten die Kosaken. Ein entscheidender Augenblick! Aber behutsam, in schmalem Bande, folgen die Reiter durch den von den Offizieren gebahnten Korridor. ,Einige von ihnen lächelten, erinnert sich Kajurow, ,und der eine zwinkerte den Arbeitern gut zu.
Wenn die Kosaken den Arbeitern zuzwinkerten, war der Zar in Schwierigkeiten.
Die Februarrevolution
Trotzkis Chronologie in Band Eins der Geschichte der russischen Revolution gibt eine anschauliche Vorstellung vom Tempo der Ereignisse: Am 23. Februar löst eine Demonstration zum Internationalen Frauentag, mit der Forderung nach Brot, die Revolution aus. Am 25. Februar findet in Petrograd ein Generalstreik statt. Am nächsten Tag löst der Zar die Duma auf doch weder dies noch das Erschießen von Demonstranten nützen etwas. Am nächsten Tag kommt es zu einer Meuterei bei den Garderegimentern und zur Bildung des Sowjets der Arbeiterdeputierten. Am 28. Februar sind die Minister des Zaren verhaftet. Versuche, eine geordnete Nachfolge zustande zu bringen, scheiterten keiner der Großfürsten wollte die von Zar Nikolaus Romanow so wohlverdiente Schlinge um seinen eigenen Hals spüren.
Die Revolution kam überraschend nicht nur für den zutiefst arglosen Monarchen, sondern auch für die verschiedenen politischen Parteien. Ihre Spontaneität barg Gefahren. Wie Trotzki bemerkte:
Ein revolutionärer Aufstand, der sich auf einige Tage erstreckt, kann sich nur in dem Falle siegreich entwickeln, wenn er von Stufe zu Stufe sich steigert und immer neue Fortschritte aufweist. Ein Stillstand in der Entwicklung der Erfolge ist gefährlich, längeres Treten auf einem Fleck verhängnisvoll. Aber auch Erfolge an sich genügen nicht; es ist nötig, daß die Menge rechtzeitig von ihnen erfährt und Zeit hat, sie zu bewerten. Man kann den Sieg in einem Augenblick verpassen, wo man nur den Arm auszustrecken braucht, um ihn zu ergreifen. Das ist in der Geschichte schon vorgekommen.
Erst am 25. Februar beschlossen die Bolschewiki, ein Flugblatt herauszugeben, das zu einem gesamtrussischen Generalstreik aufrief als Petrograd vor einem bewaffneten Aufstand stand. Was eindeutig fehlte, war politische Führung: Die Führung schaut von oben zu, schwankt und bleibt zurück, das heißt führt nicht. Sie trottet hinter der Bewegung her (Trotzki, Geschichte).
Daher das Paradoxon der Februarrevolution: Der Zar wurde gestürzt durch einen Massenaufstand der Petrograder Arbeiter mit Unterstützung oder Duldung der Garnisonstruppen, und die Sowjets erlangten die wirkliche Macht. Doch die Provisorische Regierung, die gebildet wurde, war von Monarchisten dominiert ihr Führer war Fürst Lwow und selbst die Kadetten (eine bürgerliche und Großgrundbesitzerpartei, die für eine konstitutionelle Monarchie eintrat) wurden in ihr als linker Flügel betrachtet! Die Arbeiter hatten die Monarchie gestürzt, doch die politische Macht, die sie mit Recht innehatten, wurde der Bourgeoisie übergeben wie eine Handgranate, deren Zünder schon gezogen war.
Wie war das zu erklären? Auf den ersten Blick war der Sturz der Monarchie ohne die Führung einer revolutionären Partei zustande gekommen. Doch wie Trotzki betont, ist dies eine irreführende Betrachtungsweise. Erst einmal gab es da die Erfahrung von 1905. Danach stählte die bolschewistische Partei trotz der Periode tiefer Reaktion ihre Kader auf allen Arbeitsfeldern, sowohl legal als auch im Untergrund. Bis 1912 hatte die Arbeiterklasse einigen Kampfgeist wiedergefunden, und eine Reihe von Streiks fand statt. Der Einfluss der Bolschewiki im Proletariat wuchs ständig. Es lag gewiss im Bereich des Möglichen, dass das Proletariat in den städtischen Zentren Petrograd und Moskau die Macht erobert hätte (wie es später in den Julitagen von 1917 drohte). Die Frage war, wie lange es sich hätte behaupten können ohne einen Wechsel in der Haltung der Bauern hätte es wahrscheinlich eine Wiederholung der Niederlage der Pariser Kommune von 1871 gegeben.
Der Weltkrieg änderte das. Trotz des anfänglichen Ausbruchs von Patriotismus im August 1914, als die Bolschewiki von den Massen gemieden und von der Regierung unterdrückt wurden, waren die von den Bolschewiki durch ihre Intervention bei den Arbeitererhebungen von 19121914 gesäten Keime schließlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Nach 1914 hatten die Niederlagen an der militärischen Front und die dementsprechende wirtschaftliche Not im Hinterland, die durch zweieinhalb Jahre imperialistischen Schlachtens verursacht wurde, die Unterstützung für die Monarchie auf den Nullpunkt sinken lassen. Wie Trotzki betont, waren, obwohl die Bolschewiki als Partei bis an den Rand des organisatorischen Zusammenbruchs unterdrückt wurden, die einzelnen Kader immer noch am Leben und imstande, auf Betriebsebene die Aufmerksamkeit von Arbeitskollegen auf sich zu ziehen. Das heißt, wenn auch die Bolschewiki als Partei bei der Februarrevolution nicht die Führung als solche innehatten, so spielten doch ihre Ideen und Agitatoren gewiss eine entscheidende Rolle.
Doppelherrschaft
Dies führt uns zur Periode der Doppelherrschaft. Der Sturz der Monarchie wurde herbeigeführt durch die Kräfte des Petrograder Proletariats und die aktive Unterstützung (oder Neutralität) der Militärgarnison. Die kriecherischen Liberalen spielten keine Rolle, und die Großbourgeoisie suchte ihre Macht durch eine Art von wiedergekäuter monarchischer Ordnung zu kaschieren. Die Provisorische Regierung wurde von Fürst Lwow geleitet, wobei eine Handvoll Kadetten die Bourgeoisie repräsentierten und der zweite Vorsitzende des Petrograder Sowjets, Kerenski, den Posten des Justizministers übernahm, unter Missachtung einer Entscheidung des Exekutivkomitees des Sowjets, wonach seine Mitglieder der Regierung nicht beitreten durften. In Wirklichkeit besaß der Sowjet die Macht, aber seine Führung war von den Menschewiki und vor allem von den Sozialrevolutionären (SR, eine linke Partei, die sich auf die Bauernschaft stützte) dominiert; die Bolschewiki waren eine Minderheit, selbst unter den Arbeitern. Die Sowjets vom Februar spiegelten das Bewusstsein im Februar wider, was die Stellung der Sozialrevolutionäre erklärt, die die vorherrschende Partei der Bauern und somit der Soldaten waren.
Wie Trotzki bemerkte, gab die Führung des Sowjets die Macht aus der Hand:
Die Bourgeoisie erhielt hinter dem Rücken des Volkes die Macht. Sie besaß in den werktätigen Klassen keine Stütze. Doch zusammen mit der Macht bekam sie aus zweiter Hand so etwas wie einen Stützpunkt. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, von der Masse emporgehoben, händigten von sich aus der Bourgeoisie das Vertrauensmandat aus.
Als die Kompromissler-Führung vor der Bourgeoisie zu Kreuze kroch und sie darum bat, doch die Macht zu übernehmen, war sie politisch ganz konsequent die Menschewiki waren der Ansicht, die russische Revolution könne niemals den Rahmen der Herrschaft der Bourgeoisie verlassen. Selbst der barsche Miljukow (Führer der Kadetten) war erstaunt und zollte dem Verrat der Menschewiki Lob: Ja, ich hörte ihnen zu und dachte darüber nach, wie weit unsere Arbeiterbewegung seit dem Jahre 1905 vorwärtsgeschritten ist (zitiert in Trotzkis Geschichte).
Hier habt ihr also eine offizielle Regierung, die die Bourgeoisie repräsentiert und den imperialistischen Kriegszielen der Romanows und der Entente (der Allianz aus Britannien, Frankreich und Russland im Ersten Weltkrieg) verpflichtet ist, und Seite an Seite mit ihr den Sowjet, der von den aufständischen Arbeitern und Soldaten geschaffen wurde. Bedeutet das, es existierten in Wirklichkeit zwei Regierungen oder eine Staatsmacht mehrerer Klassen? Sollte das stimmen, so würde das gewiss die marxistische Konzeption vom Staat angreifen. Aber es stimmt nicht. Die Geschichte Russlands zwischen Februar und Oktober war nichts als andauernde Konflikte zwischen der Provisorischen Regierung und dem Sowjet trotz und auch wegen des Zurückfallens seiner menschewistischen und SR-Führer. Lenin traf in seinem Artikel über die Doppelherrschaft vom April 1917 wie üblich den Nagel auf den Kopf:
Die Grundfrage jeder Revolution ist die Frage der Macht im Staate. Ohne Klärung dieser Frage kann von keiner wie immer gearteten bewußten Teilnahme an der Revolution die Rede sein, von einer Führung derselben ganz zu schweigen.
Die höchst bemerkenswerte Eigenart unserer Revolution besteht darin, daß sie eine Doppelherrschaft geschaffen hat. Über diese Tatsache muß man sich vor allem klarwerden; bevor man sie nicht begriffen hat, kann man nicht vorwärtsschreiten. So muß man z. B. die alten ,Formeln des Bolschewismus zu ergänzen und zu korrigieren verstehen, da sie zwar, wie sich gezeigt hat, im allgemeinen richtig waren, ihre konkrete Anwendung sich aber anders gestaltete. An Doppelherrschaft hat früher niemand gedacht und konnte niemand denken.
Worin besteht die Doppelherrschaft? Darin, daß sich neben der Provisorischen Regierung, der Regierung der Bourgeoisie, eine noch schwache, erst in Keimform vorhandene, aber dennoch unzweifelhaft wirklich existierende und erstarkende andere Regierung herausgebildet hat: die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (W. I. Lenin, Über die Doppelherrschaft).
Unter Bezugnahme auf die menschewistischen/SR-Führer des Sowjets und deren Kapitulationen fügt Lenin hinzu:
Man will die offensichtliche Wahrheit nicht sehen, daß, inwieweit diese Sowjets bestehen, inwieweit sie eine Staatsmacht sind, insoweit in Rußland ein Staat vom Typus der Pariser Kommune besteht.
Ich betonte: ,inwieweit. Denn sie sind erst die Keime einer Staatsmacht. Sowohl durch ein direktes Abkommen mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung als auch durch eine Reihe faktischer Zugeständnisse lieferte und liefert diese Macht selber ihre Positionen an die Bourgeoisie aus.
Bei verschiedenen Gelegenheiten schalteten sich die Sowjets ein und ergriffen Maßnahmen, die normalerweise das Privileg der (bürgerlichen) Staatsmacht sind. Der erste Kriegsminister in der Provisorischen Regierung, Gutschkow, beklagte sich: Die Regierung verfügt leider über keine reale Macht, in den Händen des Sowjets sind Truppen, Eisenbahn, Post und Telegraph. ,Man kann geradezu sagen, die Provisorische Regierung existiert nur, solange der Sowjet es zuläßt‘ (zitiert in Trotzkis Geschichte). Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die Provisorische Regierung bürgerlich war, dass sie die imperialistischen Kriegsziele der Bourgeoisie verfolgte und dass die Wirtschaft Russlands immer noch auf kapitalistischer Grundlage funktionierte. Die Provisorische Regierung versuchte den Sowjet zu erdrosseln, um ihre Macht uneingeschränkt ausüben zu können. Erinnert euch bitte an Lenins Beschreibung der Sowjets als im Entstehen begriffene Macht. Die Doppelherrschaft war eine zutiefst instabile Situation, in der die konkurrierenden Klassen ihre Kräfte aufstellten für den entscheidenden Zusammenstoß, der entscheiden würde, welche Klasse herrschen würde. Anders gesagt, es bedurfte einer weiteren Revolution, um die Staatsmacht in die Hände der Sowjets zu legen. Genau das sollte im Oktober geschehen.
[WIRD FORTGESETZT]
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